uften herrschte. So erlesen die Qualitut
der einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualitut -,
so unertruglich war ihr geruchlicher Zusammenklang, gleich einem
tausendkupfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie
fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren gegen dieses
Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja sumtlich schwerhurig sind,
und auch seine Frau, die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen
ein weiteres Vordringen der Lagerruume verteidigte, nahm die vielen Geruche
kaum noch als sturend wahr. Anders der Kunde, der zum ersten Mal Baldinis
Laden betrat. Ihm schlug das herrschende Duftgemisch wie eine Faust ins
Gesicht, machte ihn, je nach Konstitution, exaltiert oder benommen,
verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart, dass er oft nicht mehr wusste,
weshalb er uberhaupt gekommen war. Laufburschen vergaßen ihre
Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen
halb hysterischen, halb klaustrophobischen Anfall, sank in Ohnmacht und
konnte nur noch mit schurfstem Riechsalz aus Nelkenul, Ammoniak und
Kampfersprit wiederhergestellt werden.
Unter diesen Umstunden war es eigentlich nicht verwunderlich, dass das
persische Glockenspiel von Giuseppe Baldinis Ladenture immer seltener
erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien.
10
"Chenier!" rief Baldini hinter dem Kontor hervor, wo er seit Stunden
suulenstarr gestanden und die Ture angestarrt hatte, "ziehen Sie Ihre
Perucke an!" Und zwischen Olivenulfussern und hungenden Schinken aus Bayonne
erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas junger als dieser, aber auch schon
ein alter Mann, und kam nach vorn in die feinere Abteilung des Ladens. Er
zog seine Perucke aus der Rocktasche und stulpte sie sich uber. "Sie gehen
aus, Herr Baldini?"
"Nein", sagte Baldini, "ich werde mich fur einige Stunden in mein
Arbeitszimmer zuruckziehen und wunsche, absolut nicht gesturt zu werden."
"Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum."
baldini So ist es. Zur Beduftung einer spanischen Haut fur den Grafen
Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt etwas wie... wie
... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und
stammt angeblich von diesem... diesem Stumper aus der Rue Saint-Andre des
Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier.
baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der Stumper.
>Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es?
chenier Jaja. Dochdoch. Man riecht es jetzt uberall. An jeder
Straßenecke riecht man es. Aber wenn Sie mich fragen - nichts
Besonderes! Es kann sich bestimmt in keiner Weise messen mit dem, welches
Sie komponieren werden, Herr Baldini.
baldini Naturlich nicht.
chenier Es riecht uußerst gewuhnlich, dieses >Amor und
Psyche<.
baldini Vulgur?
chenier Durchaus vulgur, wie alles von Pelissier. Ich glaube, es ist
Limettenul darin.
baldini Wirklich? Was noch?
chenier Orangenblutenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur.
Aber ich kann es nicht sicher sagen.
baldini Es ist mir auch vullig gleichgultig.
chenier Naturlich.
baldini Es ist mir schnurzegal, was der Stumper Pelissier in sein
Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen!
chenier Da haben Sie Recht, Monsieur.
baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen,
erarbeite ich meine Parfums.
chenier Ich weiß, Monsieur.
baldini Gebure sie allein aus mir!
chenier Ich weiß.
baldini Und ich gedenke, fur den Grafen Verhamont etwas zu kreieren,
was wirklich Furore macht.
chenier Davon bin ich uberzeugt, Herr Baldini.
baldini Sie ubernehmen den Laden. Ich brauche Ruhe. Halten Sie mir
alles vom Leibe, Chenier...
Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es
seinem Alter zukam, gebeugt, ja fast wie geprugelt, davon und stieg langsam
die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm
den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der
Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur Ture. Er wusste,
was in den nuchsten Stunden passieren wurde: numlich gar nichts im Laden,
und oben im Arbeitszimmer Baldinis die ubliche Katastrophe. Baldini wurde
seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtrunkten Rock ausziehen, sich an den
Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung wurde
nicht kommen. Er wurde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von
Probefluschchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese
Mischung wurde missraten. Er wurde fluchen, das Fenster aufreißen und
sie in den Fluss hinunterwerfen. Er wurde etwas anderes probieren, auch das
wurde missraten, er wurde nun schreien und toben und in dem schon betuubend
riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er wurde gegen sieben Uhr
abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen:
"Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht geburen,
ich kann die spanische Haut fur den Grafen nicht liefern, ich bin verloren,
ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen Sie mir zu
sterben!" Und Chenier wurde vorschlagen, dass man zu Pelissier schickte um
eine Flasche >Amor und Psyche<, und Baldini wurde zustimmen unter der
Bedingung, dass kein Mensch von dieser Schande erfuhre, Chenier wurde
schwuren, und nachts wurden sie heimlich das Leder fur den Grafen Verhamont
mit dem fremden Parfum beduften. So wurde es sein und nicht anders, und
Chenier wunschte nur, er hutte das ganze Theater schon hinter sich. Baldini
war kein großer Parfumeur mehr. Ja, fruher, in seiner Jugend, vor
dreißig, vierzig Jahren, da hatte er >Rose des Sudens< erfunden
und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große Dufte, denen
er sein Vermugen verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte
die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn
er uberhaupt noch einmal einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es
vollkommen demodiertes, unverkuufliches Zeug, das sie ein Jahr sputer
zehnfach verdunnten und als Springbrunnenwasserzusatz verhukerten. Schade um
ihn, dachte Chenier und uberprufte den Sitz seiner Perucke im Spiegel,
schade um den alten Baldini; schade um sein schunes Geschuft, denn er wird's
herunterbringen; und schade um mich, denn bis er's heruntergebracht haben
wird, bin ich zu alt, um es zu ubernehmen...
11
Zwar hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur
aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers sturte ihn schon lungst
nicht mehr beim Riechen, er trug ihn ja schon seit Jahrzehnten mit sich
herum und nahm ihn uberhaupt nicht mehr wahr. Er hatte auch die Ture des
Arbeitszimmers zugeschlossen und sich Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich
nicht an den Schreibtisch, um zu grubeln und auf eine Eingebung zu warten,
denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben wurde;
er hatte numlich noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und verbraucht, das
stimmte, und auch kein großer Parfumeur mehr; aber er wusste, dass er
im Leben noch nie einer gewesen war. >Rose des Sudens< hatte er von
seinem Vater geerbt und das Rezept fur >Baldinis galantes Bouquet<
einem durchreisenden Genueser Gewurzhundler abgekauft. Die ubrigen seiner
Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war
kein Erfinder. Er war ein sorgfultiger Verfertiger von bewuhrten Geruchen,
wie ein Koch war er, der mit Routine und guten Rezepten eine große
Kuche macht und doch noch nie ein eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen
Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei
fuhrte er nur auf, weil das zum stundischen Berufsbild eines Maitre
Parfumeur et Gantier gehurte. Ein Parfumeur, das war ein halber Alchimist,
der Wunder schuf, so wollten es die Leute - gut so! Dass seine Kunst ein
Handwerk war wie jedes andere auch, das wusste nur er selbst, und das war
sein Stolz. Er wollte gar kein Erfinder sein. Erfindung war ihm sehr
suspekt, denn sie bedeutete immer den Bruch einer Regel. Er dachte auch gar
nicht daran, fur den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er wurde
sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier uberreden lassen, >Amor
und Psyche< von Pelissier zu besorgen. Er hatte es schon. Da stand es,
auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, in einem kleinen Glasflakon mit
geschliffenem Stupsel. Schon vor ein paar Tagen hatte er es gekauft.
Naturlich nicht persunlich. Er konnte doch nicht persunlich zu Pelissier
gehen und ein Parfum kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann, und dieser
wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war geboten. Denn Baldini wollte
das Parfum nicht einfach zum Beduften der spanischen Haut verwenden, dazu
hutte die geringe Menge auch gar nicht ausgereicht. Er hatte etwas
Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren.
Das war ubrigens nicht verboten. Es war nur außerordentlich
unfein. Das Parfum eines Konkurrenten heimlich nachzumachen und unter
eigenem Namen zu verkaufen, war schrecklich unfein. Aber noch unfeiner war
es, sich dabei ertappen zu lassen, und darum durfte Chenier nichts davon
wissen, denn Chenier war geschwutzig.
Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah,
so krumme Wege zu gehen! Wie schlimm, dass man das Kostbarste, was man
besaß, die eigene Ehre, auf so schubige Weise befleckte! Aber was
sollte er tun? Immerhin war der Graf Verhamont ein Kunde, den er keinesfalls
verlieren durfte. Er hatte ja ohnehin kaum noch einen Kunden. Er musste der
Kundschaft ja schon wieder nachlaufen wie zu Beginn der zwanziger Jahre, als
er am Anfang seiner Karriere stand und mit dem Bauchladen durch die
Straßen zog. Weiß Gott kam er, Giuseppe Baldini, Inhaber der
grußten Duftstoffhandlung von Paris, in bester Geschuftslage,
finanziell nur noch uber die Runden, wenn er mit dem Kufferchen in der Hand
Hausbesuche machte. Und das gefiel ihm gar nicht, denn er war schon weit
uber sechzig und hasste es, in kalten Vorzimmern zu warten und alten
Marquisen Tausendblumenwasser und Vierruuberessig vorzufuhren oder ihnen
eine Migrunesalbe aufzuschwatzen. Außerdem herrschte in diesen
Vorzimmern eine ganz ekelhafte Konkurrenz. Da war dieser Emporkummling
Brouet aus der Rue Dauphine, der von sich behauptete, er habe das
grußte Pomadenprogramm Europas; oder Calteau aus der Rue Mauconseil,
der es zum Hoflieferanten der Comtesse von Artois gebracht hatte; oder
dieser vullig unberechenbare Antoine Pelissier aus der Rue
Saint-Andre-des-Arts, der in jeder Saison einen neuen Duft lancierte, nach
welchem die ganze Welt verruckt war. >So ein Parfum von Pelissier konnte
den ganzen Markt in Unordnung bringen. War in einem Jahr Ungarisches Wasser
in Mode, und hatte sich Baldini entsprechend mit Lavendel, Bergamotte und
Rosmarin eingedeckt, um den Bedarf zu befriedigen - so kam Pelissier mit
>Air de Musc< heraus, einem ultraschweren Moschusduft. Jeder Mensch
musste plutzlich tierisch riechen, und Baldini konnte sein Rosmarin zu
Haarwasser verarbeiten und den Lavendel in Riechsuckchen nuhen. Hatte er
dagegen fur das nuchste Jahr entsprechende Mengen an Moschus, Zibet und
Castoreum bestellt, so fiel es Pelissier ein, ein Parfum namens
>Waldblume< zu kreieren, was prompt ein Erfolg wurde. Und hatte
Baldini endlich in nuchtelangen Versuchen oder durch hohe Bestechungsgelder
herausgefunden, woraus >Waldblumen< bestand - da trumpfte Pelissier
schon wieder auf mit >Turkische Nuchte< oder >Lissabonner Duft<
oder >Bouquet de la Cour< oder weiß der Teufel womit sonst.
Dieser Mensch war auf jeden Fall in seiner zugellosen Kreativitut eine
Gefahr fur das ganze Gewerbe. Man wunschte sich die Rigiditut des alten
Zunftrechts zuruck. Man wunschte sich die drakonischsten Maßnahmen
gegen diesen Aus-Der-Reihe-Tunzer, gegen diesen Duftinflationur. Das Patent
gehurte ihm entzogen, ein saftiges Berufsverbot auferlegt..., und uberhaupt
sollte der Kerl erst einmal eine Lehre machen! Denn ein gelernter Parfumeur-
und Handschuhmachermeister war er nicht, dieser Pelissier. Sein Vater war
nichts als ein Essigsieder gewesen, und Essigsieder war auch Pelissier,
nichts anderes. Und bloß weil er als Essigsieder berechtigt war, mit
Spirituosen umzugehen, konnte er uberhaupt ins Gehege der echten Parfumeure
einbrechen und darin herumwuten wie ein Stinktier. - Wozu brauchte man in
jeder Saison einen neuen Duft? War das nutig? Das Publikum war fruher auch
sehr zufrieden gewesen mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die
man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringfugig underte. Jahrtausendelang
hatten die Menschen mit Weihrauch und Myrrhe, ein paar Balsamen, ulen und
getrockneten Wurzkruutern vorlieb genommen. Und auch als sie gelernt hatten,
mit Kolben und Alambic zu destillieren, vermittels Wasserdampf den Kruutern,
Blumen und Hulzern das duftende Prinzip in Form von utherischem ul zu
entreißen, es mit eichenen Pressen aus Samen und Kernen und
Fruchtschalen zu quetschen oder mit sorgsam gefilterten Fetten den
Blutenbluttern zu entlocken, war die Zahl der Dufte noch bescheiden gewesen.
Damals wure eine Figur wie Pelissier gar nicht muglich gewesen, denn damals
brauchte es schon zur Erzeugung einer simplen Pomade Fuhigkeiten, von denen
sich dieser Essigpanscher gar nichts truumen ließ. Man musste nicht
nur destillieren kunnen, man musste auch Salbenmacher sein und Apotheker,
Alchimist und Handwerker, Hundler, Humanist und Gurtner zugleich. Man musste
Hammelnierenfett von jungem Rindertalg unterscheiden kunnen und ein
Viktoriaveilchen von einem solchen aus Parma. Man musste die lateinische
Sprache beherrschen. Man musste wissen, wann der Heliotrop zu ernten ist und
wann das Pelargonium bluht und dass die Blute des Jasmins mit aufgehender
Sonne ihren Duft verliert. Von diesen Dingen hatte dieser Pelissier
selbstredend keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er Paris noch nie verlassen,
in seinem Leben bluhenden Jasmin noch nie gesehen. Geschweige denn, dass er
einen Schimmer von der gigantischen Schufterei besaß, deren es
bedurfte, um aus hunderttausend Jasminbluten einen kleinen Klumpen Concrete
oder ein paar Tropfen Essence Absolue herauszuwringen. Wahrscheinlich kannte
er nur diese, kannte Jasmin nur als konzentrierte dunkelbraune Flussigkeit,
die in einem kleinen Fluschchen neben vielen anderen Fluschchen, aus denen
er seine Modeparfums mixte, im Tresorschrank stand. Nein, eine Figur wie
dieser Schnusel Pelissier hutte in den guten alten handwerklichen Zeiten
kein Bein auf den Boden gebracht. Dazu fehlte ihm alles: Charakter, Bildung,
Genugsamkeit und der Sinn fur zunftische Subordination. Seine
parfumistischen Erfolge verdankte er einzig und allein einer Entdeckung, die
vor nunmehr zweihundert Jahren der geniale Mauritius Frangipani - ein
Italiener ubrigens! - gemacht hatte und die darin bestand, dass Duftstoffe
in Weingeist luslich sind. Indem Frangipani seine Riechpulverchen mit
Alkohol vermischte und damit ihren Duft auf eine fluchtige Flussigkeit
ubertrug, hatte er den Duft befreit von der Materie, hatte den Duft
vergeistigt, den Duft als reinen Duft erfunden, kurz: das Parfum erschaffen.
Was fur eine Tat! Welch epochale Leistung! Vergleichbar wirklich nur den
grußten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der
Schrift durch die Assyrer, der euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato
und der Verwandlung von Trauben in Wein durch die Griechen. Eine wahrhaft
prometheische Tat! Und doch, wie alle großen Geistestaten nicht nur
Licht, sondern auch Schatten werfen und der Menschheit neben Wohltaten auch
Verdruss und Elend bereiten, so hatte leider auch die herrliche Entdeckung
Frangipanis uble Folgen: Denn nun, da man gelernt hatte, den Geist der
Blumen und Kruuter, der Hulzer, Harze und der tierischen Sekrete in
Tinkturen festzubannen und auf Fluschchen abzufullen, entglitt die Kunst des
Parfumierens nach und nach den wenigen universalen handwerklichen Kunnern
und stand Quacksalbern offen, sofern sie nur eine leidlich feine Nase
besaßen, wie zum Beispiel diesem Stinktier Pelissier. Ohne sich darum
zu bekummern, wie der wunderbare Inhalt seiner Fluschchen je entstanden war,
konnte er einfach seinen olfaktorischen Launen folgen und zusammenmischen,
was ihm gerade einfiel oder was das Publikum gerade wunschte.
Bestimmt besaß dieser Bastard Pelissier mit seinen
funfunddreißig Jahren schon jetzt ein grußeres Vermugen als er,
Baldini, es sich in der dritten Generation durch harte beharrliche Arbeit
endlich angehuuft hatte. Und Pelissiers nahm tuglich zu, wuhrend seins,
Baldinis, sich tuglich verminderte. So etwas wure fruher doch gar nicht
muglich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingefuhrter Commergant
um seine schiere Existenz zu kumpfen hatte, das gab es doch erst seit
wenigen Jahrzehnten! Seitdem uberall und in allen Bereichen die hektische
Neuerungssucht ausgebrochen ist, dieser hemmungslose Tatendrang, diese
Experimentierwut, diese Großmannssucht im Handel, im Verkehr und in
den Wissenschaften!
Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man die vielen neuen
Straßen, die uberall gebuddelt wurden, und die neuen Brucken? Wozu?
War es von Vorteil, wenn man bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war
daran gelegen? Wem nutzte es? Oder uber den Atlantik zu fahren, in einem
Monat nach Amerika zu rasen - als wure man nicht jahrtausendelang sehr gut
ohne diesen Kontinent ausgekommen. Was hatte der zivilisierte Mensch im
Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen
sie, das lag im Norden, im ewigen Eise, wo Wilde lebten, die rohe Fische
fraßen. Und noch einen weiteren Kontinent wollten sie entdecken, der
angeblich in der Sudsee lag, wo immer das war. Und wozu dieser Wahnsinn?
Weil die anderen es auch taten, die Spanier, die verfluchten Englunder, die
impertinenten Hollunder, mit denen man sich dann herumschlagen musste, was
man sich uberhaupt nicht leisten konnte. 300000 Livres kostet so ein
Kriegsschiff gut und gerne, und versenkt ist es in funf Minuten mit einem
einzigen Kanonenschuss, auf Nimmerwiedersehn, bezahlt von unseren Steuern.
Den zehnten Teil auf alle Einkunfte verlangt der Herr Finanzminister
neuerdings, und das ist ruinus, auch wenn man diesen Teil nicht zahlt, denn
schon die ganze Geisteshaltung ist verderblich.
Das Ungluck des Menschen ruhrt daher, dass er nicht still in seinem
Zimmer bleiben will, dort, wo er hingehurt. Sagt Pascal. Aber Pascal war ein
großer Mann gewesen, ein Frangipani des Geistes, ein Handwerker recht
eigentlich, und ein solcher ist heute nicht mehr gefragt. Jetzt lesen sie
aufwieglerische Bucher von Hugenotten oder Englundern. Oder sie schreiben
Traktate oder sogenannte wissenschaftliche Großwerke, in denen sie
alles und jedes in Frage stellen. Nichts mehr soll stimmen, alles soll jetzt
plutzlich anders sein. In einem Glas Wassers sollen neuerdings ganz kleine
Tierchen schwimmen, die man fruher nicht gesehen hat; die Syphilis soll eine
ganz normale Krankheit sein und keine Strafe Gottes mehr; Gott soll die Welt
nicht an sieben Tagen erschaffen haben, sondern in Jahrmillionen, wenn er es
uberhaupt war; die Wilden sind Menschen wie wir; unsere Kinder erziehen wir
falsch; und die Erde ist nicht mehr rund wie bisher, sondern oben und unten
platt wie eine Melone - als ob es darauf ankume! In jedem Bereich wird
gefragt und gebohrt und geforscht und geschnuffelt und herumexperimentiert.
Es genugt nicht mehr, dass man sagt, was ist und wie es ist - es muss jetzt
alles noch bewiesen werden, am besten mit Zeugen und Zahlen und
irgendwelchen lucherlichen Versuchen. Diese Diderots und d'Alemberts und
Voltaires und Rousseaus und wie die Schreiberlinge alle hießen - sogar
geistliche Herren sind darunter und Herren von Adel! -, sie haben es
wahrhaft geschafft, ihre eigne perfide Ruhelosigkeit, die schiere Lust am
Nichtzufriedensein und des um alles in der Welt Sich-nicht-begnugen-kunnens,
kurz: das grenzenlose Chaos, das in ihren Kupfen herrscht, auf die gesamte
Gesellschaft auszudehnen!
Wo man hinsah, herrschte Hektik. Leute lasen Bucher, sogar Frauen.
Priester hockten im Kaffeehaus. Und wenn die Polizei mal eingriff und einen
dieser Oberschurken ins Gefungnis steckte, dann heulten die Verleger auf und
reichten Petitionen ein, und huchste Herren und Damen machten ihren Einfluss
geltend, bis man ihn nach ein paar Wochen wieder freisetzte oder ins Ausland
ziehen ließ, wo er dann hemmungslos weiterpamphletisierte. In den
Salons palaverte man nur noch uber Kometenbahnen und Expeditionen, uber
Hebelkraft und Newton, uber Kanalbau, Blutkreislauf und den Durchmesser des
Erdballs.
Und selbst der Kunig ließ sich irgendeinen neumodischen Unsinn
vorfuhren, eine Art kunstliches Gewitter namens Elektrizitut: Im Angesicht
des ganzen Hofes rieb ein Mensch an einer Flasche, und es funkte, und Seine
Majestut, so hurt man, zeigte sich tief beeindruckt. Unvorstellbar, dass
sein Urgroßvater, der wahrhaft große Ludwig, unter dessen
segensreicher Herrschaft Baldini lange Jahre noch das Gluck hatte gelebt zu
haben, eine so lucherliche Demonstration vor seinen Augen geduldet hutte!
Aber das war der Geist der neuen Zeit, und buse wurde alles enden!
Denn wenn man schon ungeniert und auf die frechste Art die Autoritut
von Gottes Kirche in Zweifel ziehen konnte; wenn man uber die nicht minder
gottgewollte Monarchie und die geheiligte Person des Kunigs sprach, als
seien beide bloß variable Posten in einem ganzen Katalog von anderen
Regierungsformen, die man nach Gusto auswuhlen kunne; wenn man sich
schließlich noch so weit verstieg, wie das geschah, Gott selbst, den
Allmuchtigen, Ihn Huchstpersunlich, als entbehrlich hinzustellen und allen
Ernstes zu behaupten, es seien Ordnung, Sitte und das Gluck auf Erden ohne
Ihn zu denken, rein aus der eingeborenen Moralitut und der Vernunft der
Menschen selber... o Gott, o Gott! - dann allerdings brauchte man sich nicht
zu wundern, wenn sich alles von oben nach unten kehrte und die Sitten
verlotterten und die Menschheit das Strafgericht dessen, den sie
verleugnete, auf sich herabzog. Buse wird es enden. Der große Komet
von 1681, uber den sie sich lustig gemacht haben, den sie als nichts als
einen Haufen von Sternen bezeichnet haben, er war eben doch ein warnendes
Vorzeichen Gottes gewesen, denn er hatte jetzt wusste man es ja - ein
Jahrhundert der Auflusung angezeigt, der Zersetzung, des geistigen und
politischen und religiusen Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in
dem sie dereinst selbst versinken wird und in dem nur noch schillernde und
stinkende Sumpfbluten gediehen wie dieser Pelissier!
Er stand am Fenster, der alte Mann Baldini, und schaute mit gehussigem
Blick gegen die schrugstehende Sonne auf den Fluss hinaus. Lastkuhne
tauchten unter ihm auf und glitten langsam nach Westen auf den Pont Neuf und
den Hafen vor den Galerien des Louvre zu. Keiner wurde hier gegen die
Strumung herauf gestakt, sie nahmen den Flussarm auf der anderen Seite der
Insel. Hier strumte alles nur weg, die leeren und die beladenen Schiffe, die
Ruderboote und die flachen Kuhne der Fischer, das schmutzigbraune Wasser und
das golden gekruuselte, alles strumte weg, langsam, breit und unaufhaltsam.
Und wenn Baldini ganz steil nach unten blickte, hart an der Hauswand
entlang, dann war es, als suge das strumende Wasser die Fundamente der
Brucke davon, und es schwindelte ihm.
Es war ein Fehler gewesen, das Haus auf der Brucke zu kaufen, und ein
doppelter Fehler, eines auf der westlich gelegenen Seite zu nehmen. Nun
hatte er dauernd den wegstrumenden Fluss vor Augen, und es war ihm, als
strume er selbst und sein Haus und sein in vielen Jahrzehnten erworbener
Reichtum davon wie der Fluss und als sei er zu alt und zu schwach, sich noch
gegen diese gewaltige Strumung zu stemmen. Manchmal, wenn er auf dem linken
Ufer zu tun hatte, im Viertel um die Sorbonne oder bei Saint-Sulpice, dann
ging er nicht uber die Insel und den Pont Saint-Michel, sondern er nahm den
lungeren Weg uber den Pont Neuf, denn diese Brucke war unbebaut. Und dann
stellte er sich an die ustliche Brustung und schaute flussaufwurts, um
wenigstens ein Mal alles auf sich zustrumen zu sehen; und fur einige
Augenblicke schwelgte er in der Vorstellung, die Tendenz seines Lebens habe
sich umgekehrt, die Geschufte florierten, die Familie gediehe, die Frauen
flugen ihm zu und seine Existenz, statt zu zerrinnen, mehre und mehre sich.
Aber dann, wenn er den Blick nur ein klein wenig hob, sah er in einigen
hundert Metern Entfernung sein eigenes Haus gebrechlich schmal und hoch auf
dem Pont au Change, und er sah das Fenster seines Arbeitszimmers im ersten
Stock und sah sich selbst dort am Fenster stehen, sah sich hinaussehen auf
den Fluss und das wegstrumende Wasser beobachten, wie jetzt. Und damit war
der schune Traum verflogen, und Baldini, auf dem Pont Neuf stehend, wandte
sich ab, niedergeschlagener als zuvor, niedergeschlagen wie jetzt, da er
sich vom Fenster abwendete, zum Schreibtisch ging und sich setzte.
12
Vor ihm stand der Flakon mit Pelissiers Parfum. Die Flussigkeit
schimmerte goldbraun im Sonnenlicht, klar, ohne die geringste Trubung. Ganz
unschuldig sah sie aus, wie heller Tee - und enthielt doch neben vier
Funfteln Alkohol ein Funftel eines geheimnisvollen Gemisches, das eine ganze
Stadt in Aufregung versetzen konnte. Dieses Gemisch wiederum mochte aus drei
oder aus dreißig verschiedenen Stoffen bestehen, die in einem ganz
bestimmten von unzuhligen muglichen Volumenverhultnissen zueinander standen.
Es war die Seele des Parfums - soweit man bei einem Parfum dieses eiskalten
Geschuftemachers Pelissier von Seele reden konnte -, und ihren Aufbau galt
es nun herauszufinden.
Baldini schneuzte sich sorgfultig die Nase und ließ die Jalousie
am Fenster etwas herunter, denn das direkte Sonnenlicht war jedem Riechstoff
und jeder feineren geruchlichen Konzentration abtruglich. Aus der Schublade
des Schreibtischs holte er ein frisches weißes Spitzentaschentuch und
entfaltete es. Dann uffnete er den Flakon durch eine leichte Drehung des
Stupsels. Den Kopf hielt er dabei weit zuruck und kniff die Nasenflugel
zusammen, denn er wollte um Gottes willen nicht einen vorschnellen
Geruchseindruck direkt aus der Flasche erwischen. Parfum musste in
entfaltetem, luftigem Zustand gerochen werden, niemals konzentriert. Er
sprenkelte einige Tropfen auf das Taschentuch, wedelte es durch die Luft, um
den Alkohol davonzujagen, und hielt es sich dann unter die Nase. Mit drei
ganz kurzen, ruckartigen Stußen riss er den Duft in sich hinein wie
ein Pulver, blies ihn sofort wieder aus, fuchelte sich Luft zu, schnuffelte
noch einmal im Dreierrhythmus und nahm zum Abschluss einen ganz tiefen
Atemzug, den er langsam und mehrmals verhaltend, gleichsam ihn wie uber eine
lange flache Treppe gleiten lassend, ausstrumte. Er warf das Taschentuch auf
den Tisch und ließ sich gegen die Sessellehne zuruckfallen.
Das Parfum war ekelhaft gut. Dieser miserable Pelissier war leider ein
Kunner. Ein Meister, Gott sei's geklagt, und wenn er tausendmal nichts
gelernt hatte! Baldini wunschte, es wure von ihm, dieses >Amor und
Psyche<. Es war keine Spur ordinur. Absolut klassisch, rund und
harmonisch war es. Und trotzdem faszinierend neu. Es war frisch, aber nicht
reißerisch. Es war blumig, ohne schmalzig zu sein. Es besaß
Tiefe, eine herrliche, haftende, schwelgerische, dunkelbraune Tiefe - und
war doch kein bisschen uberladen oder schwulstig.
Baldini stand fast ehrfurchtig auf und hielt sich das Taschentuch noch
einmal unter die Nase. "Wunderbar, wunderbar..." murmelte er und schnuffelte
gierig, "es hat einen heiteren Charakter, es ist lieblich, es ist wie eine
Melodie, es macht direkt gute Laune... Unsinn, gute Laune!" Und er
schleuderte das Tuchlein wutend auf den Tisch zuruck, wandte sich ab und
ging in die hinterste Ecke des Zimmers, als schume er sich seiner
Begeisterung.
Lucherlich! Sich zu solchen Elogen hinreißen zu lassen. >Wie
eine Melodie. Heiter. Wunderbar. Gute Laune.< - Bludsinn! Kindischer
Bludsinn. Eindruck des Augenblicks. Alter Fehler. Temperamentsfrage.
Wahrscheinlich italienisches Erbteil. Urteile nicht, solange du riechst! Das
ist die erste Regel, Baldini, alter Schafskopf! Rieche, wenn du riechst, und
urteile, wenn du gerochen hast! >Amor und Psyche< ist ein nicht
unebenes Parfum. Ein durchaus gelungenes Produkt. Ein geschickt
zusammengestelltes Machwerk. Um nicht zu sagen ein Blendwerk. Und etwas
anderes als ein Blendwerk war von einem Mann wie Pelissier auch gar nicht zu
erwarten. Naturlich fabrizierte ein Kerl wie Pelissier kein Dutzendparfum.
Der Schurke blendete mit huchster Kunnerschaft, verwirrte den Geruchssinn
mit perfekter Harmonie, ein Wolf im Schafspelz klassischer Geruchskunst war
dieser Mensch, mit einem Wort: ein Scheusal mit Talent. Und das war
schlimmer als ein Pfuscher mit dem rechten Glauben.
Aber du, Baldini, wirst dich nicht beturen lassen. Du warst nur einen
Augenblick lang uberrascht vom ersten Eindruck des Machwerks. Aber
weiß man denn, wie es in einer Stunde riechen wird, wenn seine
fluchtigsten Substanzen sich verflogen haben und sein Mittelbau hervortritt?
Oder wie es heute Abend riechen wird, wenn nur noch jene schweren, dunklen
Komponenten wahrzunehmen sind, die jetzt geruchlich wie im Zwielicht unter
angenehmen Blutenschleiern liegen? Wart es ab, Baldini!
Die zweite Regel sagt: Das Parfum lebt in der Zeit; es hat seine
Jugend, seine Reife und sein Alter. Und nur wenn es in allen drei
verschiedenen Lebensaltern auf gleich angenehme Weise Duft verstrumt, ist es
als gelungen zu bezeichnen. Wie oft hatten wir nicht schon den Fall, dass
eine Mischung, die wir machten, bei der ersten Probe herrlich frisch roch,
nach kurzer Zeit nach faulem Obst und endlich nur noch ekelhaft nach reinem
Zibet, das wir zu hoch dosierten. Vorsicht uberhaupt mit Zibet! Ein Tropfen
zu viel schafft Katastrophen. Alte Fehlerquelle. Wer weiß - vielleicht
hat Pelissier zu viel Zibet erwischt? Vielleicht bleibt bis heut Abend von
seinem ambitiusen >Amor und Psyche< nur noch ein Hauch von Katzenpisse
ubrig? Wir werden's sehn.
Wir werden's riechen. So wie ein scharfes Beil den Holzklotz in die
kleinsten Scheite teilt, wird unsre Nase sein Parfum in jede Einzelheit
zerspalten. Dann wird sich zeigen, dass dieser angebliche Zauberduft auf
sehr normalem, wohlbekanntem Weg entstanden ist. Wir, Baldini, Parfumeur,
werden dem Essigmischer Pelissier auf die Schliche kommen. Wir werden ihm
die Maske von der Fratze reißen und dem Neuerer beweisen, wozu das
alte Handwerk in der Lage ist. Haargenau wird es ihm nachgemischt, sein
modisches Parfum. Es wird unter unsern Hunden neu entstehen, so perfekt
kopiert, dass es der Windhund selbst nicht mehr von seinem eignen
unterscheiden kann. Nein! Das genugt uns nicht! Wir werden's noch
verbessern! Wir werden ihm Fehler nachweisen und sie ausmerzen und es ihm
auf diese Weise unter die Nase reiben: Du bis ein Pfuscher, Pelissier! Ein
kleiner Stinker bist du! Ein Emporkummling im Duftgewerbe, und sonst nichts!
An die Arbeit jetzt, Baldini! Die Nase geschurft und gerochen ohne
Sentimentalitut! Den Duft zerlegt nach den Regeln der Kunst! Bis heute Abend
musst du im Besitz der Formel sein! Und er sturzte zuruck an den
Schreibtisch, holte Papier, Tinte und ein frisches Taschentuch heraus, legte
sich alles zurecht und begann seine analytische Arbeit. Das geschah so, dass
er das mit frischem Parfum getrunkte Tuch rasch unter der Nase vorbeizog und
aus der voruberfliegenden Duftwolke den einen oder anderen Bestandteil
aufzufangen suchte, ohne allzusehr von der komplexen Mischung aller Teile
abgelenkt zu sein; um dann, wuhrend er das Taschentuch mit ausgestrecktem
Arm weit von sich hielt, den Namen des gefundenen Bestandteils rasch zu
notieren und hierauf neuerdings das Tuch an der Nase vorbeifliegen zu
lassen, das nuchste Duftfragment zu erhaschen und so fort...
13
Er arbeitete zwei Stunden lang ununterbrochen. Und immer hektischer
wurden seine Bewegungen, immer fahriger das Gekrakel seiner Feder auf dem
Papier, immer huher die Dosen des Parfums, das er aus dem Flakon in sein
Taschentuch schuttete und sich unter die Nase hielt.
Er roch jetzt kaum noch etwas, er war lungst betuubt von den
utherischen Substanzen, die er einatmete, konnte nicht einmal mehr
wiedererkennen, was er zu Beginn seines Probierens zweifelsfrei analysiert
zu haben glaubte. Er wusste, dass es sinnlos war, weiterzuriechen. Er wurde
nie herausbekommen, woraus dieses neumodische Parfum zusammengesetzt war,
heute schon uberhaupt nicht mehr, aber auch morgen nicht, wenn sich seine
Nase, so Gott wollte, wieder erholt haben wurde. Er hatte dieses zersetzende
Riechen nie gelernt. Es war ihm eine unselig widerwurtige Beschuftigung,
einen Duft zu zerspalten; ein Ganzes, ein gut oder weniger gut Gefugtes,
aufzuteilen in seine simplen Fragmente. Es interessierte ihn nicht. Er
wollte nicht mehr.
Aber mechanisch fuhr seine Hand fort, mit jener tausendmal geubten
zierlichen Bewegung das Spitzentaschentuch zu trunken, es zu schutteln und
rasch am Gesicht vorbeizuwedeln, und mechanisch riss er bei jedem
Voruberflug eine Portion duftgetrunkter Luft in sich hinein, um sie
kunstgerecht verhalten ausstrumen zu lassen. Bis ihn endlich seine eigene
Nase von der Qual befreite, indem sie von innen her allergisch schwoll und
sich wie mit einem wuchsernen Pfropfen selbst verschloss. Jetzt konnte er
gar nichts mehr riechen, kaum noch atmen. Wie von einem schweren Schnupfen
zugelutet war die Nase, und in seinen Augenwinkeln sammelten sich kleine
Trunen. Gott im Himmel sei Dank! Nun konnte er guten Gewissens ein Ende
machen. Nun hatte er seine Pflicht getan, nach besten Kruften, nach allen
Regeln der Kunst, und war, wie schon so oft, gescheitert. Ultra posse nemo
obligatur. Feierabend. Morgen fruh wurde er zu Pelissier schicken um eine
große Flasche >Amor und Psyche< und damit die spanische Haut fur
den Grafen Verhamont beduften, wie bestellt. Und danach wurde er sein
Kufferchen nehmen, mit den altmodischen Seifen, Sentbons, Pomaden und
Sachets, und seine Runde machen durch die Salons greiser Herzoginnen. Und
eines Tages wurde die letzte greise Herzogin gestorben sein und damit seine
letzte Kundin. Und dann wurde er selbst ein Greis sein und wurde sein Haus
verkaufen mussen, an Pelissier oder an irgendeinen anderen dieser
aufstrebenden Hundler, vielleicht bekume er noch ein paar tausend Livre
dafur. Und wurde ein, zwei Koffer packen und mit seiner alten Frau, wenn die
bis dahin noch nicht tot war, nach Italien reisen. Und wenn er die Reise
uberlebte, wurde er sich ein kleines Huuschen auf dem Lande bei Messina
kaufen, wo es billig war. Und dort wurde er sterben, Giuseppe Baldini, einst
grußter Parfumeur von Paris, in bitterster Armut, wann immer Gott es
gefiel. Und so war es gut.
Er stupselte den Flakon zu, legte die Feder aus der Hand und wischte
sich ein letztes Mal mit dem getrunkten Taschentuch uber die Stirn. Er
spurte die Kuhle des verdunstenden Alkohols, sonst nichts mehr. Dann ging
die Sonne unter.
Baldini erhob sich. Er uffnete die Jalousie, und sein Kurper tauchte
bis herab zu den Knien ins Abendlicht und gluhte auf wie eine abgebrannte
glosende Fackel. Er sah den tiefroten Saum der Sonne hinterm Louvre und das
zartere Feuer auf den Schieferduchern der Stadt. Unter ihm der Fluss glunzte
wie Gold , die Schiffe waren verschwunden. Und es kam wohl ein Wind auf,
denn uber die Wasserfluche fielen die Buen wie Schuppen, und es glitzerte da
und dort und immer nuher, als streue eine riesige Hand Millionen von
Louisdor-Stucken ins Wasser, und die Richtung des Flusses schien sich fur
einen Moment umgekehrt zu haben: er strumte auf Baldini zu, eine
gleißende Flut von purem Gold. Baldinis Augen waren feucht und
traurig. Eine Weile lang stand er still und beobachtete das herrliche Bild.
Dann, plutzlich, riss er das Fenster auf, schlug die beiden Flugel weit
auseinander und warf den Flakon mit Pelissiers Parfum in hohem Bogen hinaus.
Er sah, wie er aufplatschte und fur einen Augenblick den glitzernden
Wasserteppich zerriss.
Frische Luft strumte ins Zimmer. Baldini schupfte Atem und merkte, wie
sich die Schwellung seiner Nase luste. Dann schloss er das Fenster. Fast im
gleichen Moment wurde es Nacht, ganz plutzlich. Das goldglunzende Bild der
Stadt und des Flusses erstarrte zu einer aschgrauen Silhouette. Im Zimmer
war es mit einem Schlag duster geworden. Baldini stand wieder in der
gleichen Haltung wie zuvor und starrte zum Fenster hinaus. "Ich werde morgen
nicht zu Pelissier schicken", sagte er und umklammerte mit beiden Hunden die
Ruckenlehne seines Stuhles. "Ich werde es nicht tun. Und ich werde auch
nicht meine Tour durch die Salons machen. Sondern ich werde morgen zum Notar
gehen und mein Haus und mein Geschuft verkaufen. Das werde ich tun. E
basta!"
Er hatte einen trotzigen, bubenhaften Gesichtsausdruck bekommen und
fuhlte sich auf einmal sehr glucklich. Er war wieder der alte, der junge
Baldini, mutig, und entschlossen wie je, dem Schicksal die Stirn zu bieten -
auch wenn das Stirnbieten in diesem Fall nur Ruckzug war. Und wenn schon! Es
blieb ja nichts anderes ubrig. Die dumme Zeit ließ keine andre Wahl.
Gott gibt gute und schlechte Zeiten, aber er will nicht, dass wir in
schlechten Zeiten jammern und wehklagen, sondern dass wir uns munnlich
bewuhren. Und Er hatte ein Zeichen gegeben. Das blutrot-goldene Trugbild der
Stadt war eineWarnung gewesen: Handle, Baldini, eh es zu sput ist! Noch
steht dein Haus fest, noch sind deine Lager gefullt, noch wirst du einen
guten Preis fur dein niedergehendes Geschuft erzielen kunnen. Noch liegen
die Entscheidungen in deiner Hand. In Messina bescheiden alt zu werden, das
ist zwar nicht dein Lebensziel gewesen - aber es ist doch ehrenwerter und
gottgefulliger als in Paris pompus zugrunde zu gehen. Sollen die Brouets,
Calteaux und Pelissiers ruhig triumphieren. Giuseppe Baldini ruumt das Feld.
Aber er tat es aus freien Stucken und ungebeugt!
Er war jetzt direkt stolz auf sich. Und unendlich erleichtert. Zum
ersten Mal seit vielen Jahren wich der subalterne Krampf aus seinem Rucken,
der den Nacken verspannte und die Schultern immer devoter gewulbt hatte, und
er stand ohne Anstrengung aufrecht, gelust und frei und freute sich. Sein
Atem ging leicht durch die Nase. Er nahm den Geruch von >Amor und
Psyche<, der das Zimmer beherrschte, deutlich wahr, aber er ließ
sich nichts mehr von ihm anhaben. Baldini hatte sein Leben geundert und
fuhlte sich wunderbar. Er wurde jetzt zu seiner Frau hinaufgehen und sie von
seinen Entschlussen in Kenntnis setzen und dann nach Notre-Dame
hinuberpilgern und eine Kerze anzunden, um Gott zu danken fur den gnudigen
Fingerzeig und fur die unglaubliche Charaktersturke, die Er ihm, Giuseppe
Baldini, verliehen hatte.
Mit beinahe jugendlichem Elan warf er die Perucke auf seinen kahlen
Schudel, schlupfte in den blauen Rock, ergriff den Leuchter, der auf dem
Schreibtischstand, und verließ das Arbeitszimmer. Er hatte gerade die
Kerze am Talglicht des Treppenhauses angezundet, um sich den Weg hinauf zur
Wohnung zu beleuchten, als er es unten im Erdgeschoss klingeln hurte. Es war
nicht das schune persische Geluute der Ladentur, sondern die scheppernde
Klingel des Dienstboteneingangs, ein ekelhaftes Geruusch, das ihn schon
immer gesturt hatte. Oft wollte er das Ding entfernen und durch eine
angenehmere Glocke ersetzen lassen, aber dann war es ihm immer um die
Ausgabe leid gewesen, und jetzt, fiel ihm plutzlich ein, und er kicherte bei
dem Gedanken, jetzt war's egal; er wurde die aufdringliche Klingel samt dem
Haus verkaufen. Sollte sein Nachfolger sich daruber urgern!
Wieder schepperte die Klingel. Er lauschte nach unten. Offenbar hatte
Chenier den Laden schon verlassen. Auch das Dienstmudchen machte keine
Anstalten zu kommen. So stieg Baldini selbst hinab, um zu uffnen.
Er riss den Riegel zuruck, schwenkte die schwere Tur auf - und sah
nichts. Die Dunkelheit verschluckte den Schein der Kerze vollstundig. Dann,
sehr allmuhlich, konnte er eine kleine Gestalt ausmachen, ein Kind oder
einen halbwuchsigen Jungen, der etwas uber dem Arm trug.
"Was willst du?"
"Ich komme von Maitre Grimal, ich bringe das Ziegenleder", sagte die
Gestalt und trat nuher und hielt Baldini den abgewinkelten Arm mit einigen
ubereinandergehungten Huuten entgegen. Im Lichtschein erkannte Baldini das
Gesicht eines Jungen mit ungstlich lauernden Augen. Seine Haltung war
geduckt. Es schien, als verstecke er sich hinter seinem vorgehaltenen Arm
wie einer, der Schluge erwartet. Es war Grenouille.
14
Das Ziegenleder fur die spanische Haut! Baldini erinnerte sich. Er
hatte die Huute vor ein paar Tagen bei Grimal bestellt, feinstes weichstes
Waschleder fur die Schreibunterlage des Grafen Verhamont, funfzehn Franc das
Stuck. Aber jetzt brauchte er sie eigentlich nicht mehr, er konnte sich das
Geld sparen. Andrerseits, wenn er den Jungen einfach zuruckschickte...? Wer
weiß - es kunnte einen ungunstigen Eindruck machen, man wurde
vielleicht reden, Geruchte kunnten entstehen: Baldini sei unzuverlussig
geworden, Baldini bekomme keine Auftruge mehr, Baldini kunne nicht mehr
zahlen... und so etwas war nicht gut, nein, nein, denn so etwas druckte
womuglich den Verkaufswert des Geschufts. Es war besser, diese nutzlosen
Ziegenhuute anzunehmen. Niemand brauchte zur Unzeit zu erfahren, dass
Giuseppe Baldini sein Leben geundert hatte.
"Komm herein!"
Er ließ den Jungen eintreten, und sie gingen in den Laden
hinuber, Baldini mit dem Leuchter voran, Grenouille mit seinen Huuten
hinterdrein. Es war das erste Mal, dass Grenouille eine Parfumerie betrat,
einen Ort, wo Geruche nicht Beiwerk waren, sondern ganz unverblumt im
Mittelpunkt des Interesses standen. Naturlich kannte er sumtliche Parfum -
und Drogenhandlungen der Stadt, nuchtelang war er vor den Auslagen
gestanden, hatte seine Nase an die Spalten der Turen gedruckt. Er kannte
sumtliche Dufte, die hier gehandelt wurden, und hatte sie in seinem Innern
schon oft zu herrlichsten Parfums zusammengedacht. Es erwartete ihn also
nichts Neues. Aber ebenso wie ein musikalisches Kind darauf brennt, ein
Orchester aus der Nuhe zu sehen oder einmal in der Kirche auf die Empore
hinaufzusteigen, zum verborgenen Manual der Orgel, so brannte Grenouille
darauf, eine Parfumerie von innen zu sehen, und er hatte, als er hurte, es
solle Leder zu Baldini geliefert werden, alles daran gesetzt, diese
Besorgung ubernehmen zu durfen.
Und nun stand er in Baldinis Laden, an dem Ort von Paris, an dem die
grußte Anzahl professioneller Dufte auf engstem Raum versammelt war.
Viel sah er nicht im voruberfliegenden Kerzenlicht, nur kurz den Schatten
des Kontors mit der Waage, die beiden Reiher uber dem Becken, einen Sessel
fur die Kunden, die dunklen Regale an den Wunden, das kurze Aufblinken von
Messinggerut und weißen Etiketten auf Glusern und Tiegeln; und er roch
auch nicht mehr, als er schon von der Straße her gerochen hatte. Aber
er spurte sofort den Ernst, der in diesen Ruumen herrschte, fast muchte man
sagen, den heiligen Ernst, wenn das Wort "heilig" fur Grenouille irgendeine
Bedeutung besessen hutte; den kalten Ernst spurte er, die handwerkliche
Nuchternheit, den trockenen Geschuftssinn, die an jedem Mubel, an jedem
Gerut, an den Bottichen und Flaschen und Tupfen klebten. Und wuhrend er
hinter Baldini herging, in Baldinis Schatten, denn Baldini nahm sich nicht
die Muhe, ihm zu leuchten, uberkam ihn der Gedanke, dass er hierhergehure
und nirgendwo anders hin, dass er hier bleiben werde, dass er von hier die
Welt aus den Angeln heben wurde.
Dieser Gedanke war naturlich von geradezu grotesker Unbescheidenheit.
Es gab nichts, aber schon wirklich rein gar nichts, was einen
dahergelaufenen Gerbereihilfsarbeiter dubioser Abkunft, ohne Verbindung oder
Protektion, ohne die geringste stundische Position, zu der Hoffnung
berechtigte, in der renommiertesten Duftstoffhandlung von Paris Fuß zu
fassen; um so weniger, als, wie wir wissen, die Auflusung des Geschufts
bereits beschlossene Sache war. Aber es handelte sich ja auch nicht um eine
Hoffnung, die sich in Grenouilles unbescheidenen Gedanken ausdruckte,
sondern um eine Gewissheit. Diesen Laden, so wusste er, wurde er nur noch
verlassen, um seine Kleider bei Grimal abzuholen, und dann nicht mehr. Der
Zeck hatte Blut gewittert. Jahrelang war er still gewesen, in sich
verkapselt, und hatte gewartet. Jetzt ließ er sich fallen auf Gedeih
und Verderb, vollkommen hoffnungslos. Und deshalb war seine Sicherheit so
groß.
Sie hatten den Laden durchquert. Baldini uffnete den nach der
Flussseite gelegenen Hinterraum, der teils als Lager, teils als Werkstatt
und Labor diente, wo die Seifen gekocht und die Pomaden geruhrt und die
Riechwusser in bauchigen Flaschen gemischt wurden. "Da!" sagte er und wies
auf einen großen Tisch, der vor dem Fenster stand, "da leg sie hin!"
Grenouille trat aus Baldinis Schatten heraus, legte die Leder auf den
Tisch, sprang dann rasch wieder zuruck und stellte sich zwischen Baldini und
die Tur. Baldini blieb noch eine Weile stehen. Er hielt die Kerze etwas
beiseite, damit keine Wachstropfen auf den Tisch fielen, und strich mit dem
Fingerrucken uber die glatte Fluche des Leders. Dann schlug er das oberste
um und fuhr uber die samtige, zugleich rauhe und weiche Innenseite. Es war
sehr gut, dieses Leder. Wie geschaffen fur eine spanische Haut. Es wurde
sich beim Trocknen kaum verziehen, es wurde, wenn man es richtig mit dem
Falzbein strich, wieder geschmeidig werden, er spurte das sofort, wenn er es
nur zwischen Daumen und Zeigefinger druckte; es konnte Duft fur funf oder
zehn Jahre aufnehmen; es war ein sehr, sehr gutes Leder - vielleicht wurde
er Handschuhe daraus machen, drei Paar fur sich und drei Paar fur seine
Frau, fur die Reise nach Messina.
Er zog seine Hand zuruck. Ruhrend sah der Arbeitstisch aus: wie alles
bereit lag; die Glaswanne fur das Duftbad, die Glasplatte zum Trocknen, die
Reibschalen zum Anmischen der Tinktur, Pistill und Spatel, Pinsel und
Falzbein und Schere. Es war, als schliefen die Dinge nur, weil es dunkel
war, und als wurden sie morgen wieder lebendig. Vielleicht sollte er den
Tisch mitnehmen nach Messina? Und einen Teil seines Werkzeugs, nur die
wichtigsten Stucke...? Man saß und arbeitete sehr gut an diesem Tisch.
Er bestand aus Eichenbrettern, und das Gestell ebenfalls, und er war quer
verstrebt, da zitterte und wackelte nichts an diesem Tisch, dem machte keine
Suure etwas aus und kein ul und kein Messerschnitt - und ein Vermugen wurde
es kosten, ihn nach Messina zu bringen! Selbst mit dem Schiff! Und darum
wird er verkauft, der Tisch, morgen wird er verkauft, und alles, was darauf,
darunter und daneben ist, wird ebenfalls verkauft! Denn er, Baldini, hatte
zwar ein sentimentales Herz, aber er hatte auch einen starken Charakter, und
deshalb wurde er, so schwer es ihm fiel, seinen Entschluss durchfuhren; mit
Trunen in den Augen gab er alles weg, aber er wurde es trotzdem tun, denn er
wusste, dass es richtig war, er hatte ein Zeichen bekommen.
Er drehte sich um, um zu gehen. Da stand dieser kleine verwachsene
Mensch in der Tur, den hatte er fast schon vergessen. "Es ist gut", sagte
Baldini. "Richte dem Meister aus, das Leder ist gut. Ich werde in den
nuchsten Tagen vorbeikommen, um zu bezahlen."
"Jawohl", sagte Grenouille und blieb stehen und verstellte Baldini, der
sich anschickte, seine Werkstatt zu verlassen, den Weg. Baldini stutzte ein
wenig, hielt aber in seiner Ahnungslosigkeit das Verhalten des Jungen nicht
fur Chuzpe, sondern fur Schuchternheit.
"Was ist?" fragte er. "Hast du mir noch etwas zu bestellen? Nun? Sag es
nur!" Grenouille stand geduckt und schaute Baldini mit jenem Blick an, der
scheinbar ungstlichkeit verriet, in Wirklichkeit aber einer lauernden
Gespanntheit entsprang.
"Ich will bei Ihnen arbeiten, Maitre Baldini. Bei Ihnen, in Ihrem
Geschuft will ich arbeiten."
Das war nicht bittend gesagt, sondern fordernd, und es war auch nicht
eigentlich gesagt, sondern herausgepresst, hervorgezischelt, schlangenhaft.
Und wieder verkannte Baldini das unheimliche Selbstbewusstsein Grenouilles
als knabenhafte Unbeholfenheit. Er luchelte ihn freundlich an. "Du bist
Gerberlehrling, mein Sohn", sagte er, "ich habe keine Verwendung fur einen
Gerberlehrling. Ich habe selbst einen Gesellen, und einen Lehrling brauche
ich nicht."
"Sie wollen diese Ziegenleder riechen machen, Maitre Baldini? Diese
Leder, die ich Ihnen gebracht habe, die wollen Sie doch riechen machen?"
zischelte Grenouille, als habe er Baldinis Antwort gar nicht zur Kenntnis
genommen.
"In der Tat", sagte Baldini.
"Mit >Amor und Psyche< von Pelissier?" fragte Grenouille und
duckte sich noch tiefer zusammen. Jetzt zuckte ein milder Schrecken durch
Baldinis Kurper. Nicht weil er sich fragte, woher der Bursche so genau
Bescheid wusste, sondern einfach wegen der Namensnennung dieses verhassten
Parfums, an dessen Entrutselung er heute gescheitert war.
"Wie kommst du auf die absurde Idee, ich wurde ein fremdes Parfum
benutzen, um..."
"Sie riechen danach!" zischelte Grenouille. "Sie tragen es auf der
Stirn, und in der rechten Rocktasche haben Sie ein Tuch, das ist getrunkt
davon. Es ist nicht gut, dieses >Amor und Psyche<, es ist schlecht, es
ist zu viel Bergamotte darin und zu viel Rosmarin und zu wenig Rosenul."
"Aha", sagte Baldini, der von der Wendung des Gespruchs ins Exakte
vullig uberrascht war, "was noch?"
"Orangenblute, Limette, Nelke, Moschus, Jasmin, Weingeist und etwas,
von dem ich den Namen nicht kenne, hier, sehen Sie, da! In dieser Flasche!"
Und er deutete mit dem Finger ins Dunkle. Baldini hielt den Leuchter in die
angegebene Richtung, sein Blick folgte dem Zeigefinger des Jungen und fiel
auf eine Flasche im Regal, die mit einem graugelben Balsam gefullt war.
"Storax?" fragte er.
Grenouille nickte. "Ja. Das ist drin. Storax." Und dann krummte er sich
wie von einem Krampf zusammengezogen und murmelte mindestens ein dutzendmal
das Wort >Storax< vor sich hin:
"Storaxstoraxstoraxstorax..."
Baldini hielt die Kerze gegen das storaxkruchzende Huuflein Mensch und
dachte: Entweder ist er besessen, oder er ist ein betrugerischer Gauner,
oder er ist ein begnadetes Talent. Denn dass die angegebenen Stoffe in
richtiger Zusammensetzung das Parfum >Amor und Psyche< ergeben
konnten, war durchaus muglich; es war sogar wahrscheinlich. Rosenul, Nelke
und Storax - nach diesen drei Komponenten hatte er heute Nachmittag so
verzweifelt gesucht; mit ihnen fugten sich die anderen Teile der Komposition
- die auch er erkannt zu haben glaubte - wie Segmente zu einem hubschen
runden Kuchen. Es war jetzt nur noch die Frage, in welchem exakten
Verhultnis zueinander man sie fugen musste. Um das herauszufinden, wurde er,
Baldini, tagelang herumexperimentieren mussen, eine entsetzliche Arbeit,
fast noch schlimmer als das bloße Identifizieren der Teile, denn nun
galt es, zu messen und zu wugen und zu notieren und dabei doch hullisch
aufzupassen, denn die kleinste Unaufmerksamkeit - ein Zittern mit der
Pipette, ein Fehler beim Tropfenzuhlen - konnte alles verderben. Und jeder
verpatzte Versuch war grußlich teuer. Jede verdorbene Mischung kostete
ein kleines Vermugen... Er wollte den kleinen Menschen auf die Probe
stellen, wollte ihn nach der exakten Formel von >Amor und Psyche<
fragen. Wenn er sie wusste, auf Gramm und Tropfen genau - dann war er
offenkundig ein Betruger, der sich auf irgendeine Weise das Rezept von
Pelissier ergaunert hatte, um sich bei Baldini Zutritt und Anstellung zu
verschaffen. Erriet er sie aber ungefuhr, dann war er ein Geruchsgenie und
forderte als solches Baldinis professionelles Interesse heraus. Nicht dass
Baldini seinen gefassten Entschluss, das Geschuft aufzugeben, in Frage
stellte! Es kam ihm nicht auf das Parfum von Pelissier als solches an.
Selbst wenn der Bursche es ihm literweise verschaffte, Baldini dachte nicht
im Traum daran, die spanische Haut des Grafen Verhamont damit zu beduften,
aber... Aber man war doch nicht sein Leben lang Parfumeur gewesen, hatte
sich nicht ein Leben lang mit der Zusammensetzung von Duften beschuftigt, um
von einer Stunde zur anderen seine ganze professionelle Leidenschaft zu
verlieren! Es interessierte ihn jetzt, die Formel dieses verfluchten Parfums
herauszubekommen, und mehr noch, das Talent dieses unheimlichen Jungen zu
erforschen, der ihm einen Duft von der Stirne abgelesen hatte. Er wollte
wissen, was da dahintersteckte. Er war ganz einfach neugierig.
"Du hast, so scheint es, eine feine Nase, junger Mann", sagte er,
nachdem Grenouille mit seinem Gekruchze aufgehurt hatte, und trat zuruck in
die Werkstatt, um den Leuchter vorsichtig auf dem Arbeitstisch abzustellen,
"eine zweifellos feine Nase, aber..."
"Ich habe die beste Nase von Paris, Maitre Baldini",schnarrte
Grenouille dazwischen. "Ich kenne alle Geruche der Welt, alle, die in Paris
sind, alle, nur kenne ich von manchen die Namen nicht, aber ich kann auch
die Namen lernen, alle Geruche, die Namen haben, das sind nicht viele, das
sind nur einige Tausende, ich werde sie alle lernen, ich werde den Namen des
Balsams nie vergessen, Storax, der Balsam heisst Storax heisst er,
Storax..."
"Schweig!" rief Baldini, "unterbrich mich nicht, wenn ich spreche! Du
bist vorlaut und anmaßend. Kein Mensch kennt tausend Geruche beim
Namen. Selbst ich kenne nicht tausend beim Namen, sondern nur einige
hundert, denn mehr gibt es nicht in unserem Gewerbe als einige hundert,
alles andre ist nicht Geruch, sondern Gestank!"
Grenouille, der sich wuhrend seiner lungeren eruptiven Zwischenrede
beinahe kurperlich entfaltet, in der Erregung sogar fur einen Moment mit
beiden Armen im Kreis gefuchtelt hatte, um das >alles, alles<, was er
kenne, zu umschreiben, klappte bei Baldinis Entgegnung augenblicks wieder in
sich zusammen wie eine kleine schwarze Krute und verharrte auf der
Turschwelle, bewegungslos lauernd.
"Ich bin mir", fuhr Baldini fort, "selbstverstundlich lungst daruber im
klaren, dass >Amor und Psyche< aus Storax, Rosenul und Nelke sowie
Bergamott und Rosmarinextrakt et cetera besteht. Um das herauszufinden,
bedarf es, wie gesagt, bloß einer leidlich feinen Nase, und es mag
durchaus sein, dass Gott dir eine leidlich feine Nase gegeben hat, wie
vielen, vielen anderen Menschen auch - namentlich in deinem Alter. Der
Parfumeur jedoch" - und hier hob Baldini den Zeigefinger und wulbte seine
Brust heraus - "der Parfumeur jedoch braucht mehr als eine leidlich feine
Nase. Er braucht ein uber viele Jahrzehnte geschultes, unbestechlich
arbeitendes Riechorgan, das ihn in Stand versetzt, auch komplizierteste
Geruche nach Art und Menge sicher zu entrutseln, ebenso wie neue, unbekannte
Duftgemische zu kreieren. Eine solche Nase" - und er tippte mit dem Finger
an die seine "hat man nicht, junger Mann! Eine solche Nase erwirbt man sich
mit Ausdauer und Fleiß. Oder kunntest du mir vielleicht auf Anhieb die
exakte Formel von >Amor und Psyche< nennen? Nun? Kunntest du das?"
Grenouille antwortete nicht.
"Kunntest du sie mir vielleicht ungefuhr verraten?" sagte Baldini und
beugte sich ein wenig vor, um die Krute in der Tur genauer zu sehen, "nur so
in etwa, schutzungsweise? Nun? Sprich, du beste Nase von Paris!"
Doch Grenouille schwieg.
"Siehst du?" sagte Baldini gleichermaßen befriedigt wie
enttuuscht und richtete sich wieder auf, "du kannst es nicht. Naturlich
nicht. Wie solltest du es auch kunnen. Du bist wie einer, der beim Essen
schmeckt, ob Kerbel oder Petersilie in der Suppe ist. Nun gut das ist schon
etwas. Aber deshalb bist du noch lange kein Koch. In jeder Kunst und auch in
jedem Handwerk - merke dir das, bevor du gehst! - gilt das Talent so gut wie
nichts, aber alles die Erfahrung, die durch Bescheidenheit und Fleiß
erworben wird."
Er griff nach dem Leuchter auf dem Tisch, als Grenouilles gePresste
Stimme von der Tur her schnarrte:
"Ich weiß nicht, was eine Formel ist, Mahre, das weiß ich
nicht, sonst weiß ich alles!"
"Eine Formel ist das A und O jeden Parfums", erwiderte Baldini streng,
denn er wollte dem Gespruch nun ein Ende machen. "Sie ist die akribische
Anweisung, in welchem Verhultnis die einzelnen Ingredienzen zu mischen sind,
damit der eine gewunschte, unverwechselbare Duft entstehe; das ist die
Formel. Sie ist das Rezept - wenn du dieses Wort besser verstehst." "Formel,
Formel", kruchzte Grenouille und wurde etwas grußer in der Tur, "ich
brauche keine Formel. Ich habe das Rezept in meiner Nase. Soll ich es fur
Sie mischen, Maitre, soll ich es mischen, soll ich?"
"Wie denn?" rief Baldini mit ziemlicher Lautsturke und hielt dem Gnom
die Kerze vors Gesicht. "Wie denn mischen?"
Grenouille zuckte zum ersten Mal nicht mehr zuruck. "Aber sie sind doch
alle da, die man braucht, die Geruche, sind doch alle da, in diesem Raum",
sagte er und deutete wieder ins Dunkle. "Rosenul da! Orangenblute da! Nelke
da! Rosmarin da...!"
"Freilich sind sie da!" brullte Baldini. "Alle sind sie da! Aber ich
sage dir doch, Holzkopf, das nutzt nichts, wenn man die Formel nicht hat!"
"...Jasmin da! Weingeist da! Bergamotte da! Storax da!" kruchzte
Grenouille weiter und deutete bei jedem Namen auf einen anderen Punkt im
Raum, wo es so dunkel war, dass man den Schatten der Regale mit den Flaschen
huchstens ahnen konnte.
"Du siehst wohl auch bei Nacht, he?" fuhr Baldini ihn an, "du hast
nicht nur die feinste Nase, sondern auch die schurfsten Augen von Paris,
wie? Wenn du nur leidlich gute Ohren hast, dann mach sie auf, denn ich sage
dir: Du bist ein kleiner Betruger. Wahrscheinlich hast du irgend etwas
aufgeschnappt bei Pelissier, hast was ausspioniert, wie? Und glaubst, du
kunntest mich hinters Licht fuhren?"
Grenouille stand jetzt ganz auseinandergefaltet, sozusagen in voller
Kurpergruße in der Ture, mit leicht auseinandergestellten Beinen und
leicht abgespreizten Armen, so dass er aussah wie eine schwarze Spinne, die
sich an Schwelle und Rahmen festkrallte. "Geben Sie mir zehn Minuten", sagte
er in ziemlich flussiger Rede, "und ich werde Ihnen das Parfum >Amor und
Psyche< herstellen. Jetzt gleich und hier in diesem Raum. Maitre, geben
Sie mir funf Minuten!"
"Du glaubst, ich lasse dich in meiner Werkstatt herumpantschen? Mit
Essenzen, die ein Vermugen wert sind? Dich?"
"Ja", sagte Grenouille.
"Pah!" rief Baldini und stieß dabei den ganzen Atem, den er
hatte, auf einmal heraus. Dann holte er tief Luft, sah den spinnenhaften
Grenouille lange an und uberlegte. Im Grunde ist es egal, dachte er, denn
morgen hat sowie soalles ein Ende. Ich weiß zwar, dass er das, was er
behauptet, nicht kann, ja gar nicht kunnen kann, er wure denn noch
grußer als der große Frangipani. Aber warum soll ich mir das,
was ich weiß, nicht noch vor Augen demonstrieren lassen? Womuglich
kommt mir sonst in Messina eines Tages man wird ja manchmal sonderbar im
Alter und versteift sich auf die verrucktesten Ideen - der Gedanke, ich
hutte ein olfaktorisches Genie, ein Wesen, auf dem die Gnade Gottes
uberreichlich ruhte, ein Wunderkind, als solches nicht erkannt... - Es ist
ganz ausgeschlossen. Nach allem, was mir der Verstand sagt, ist es
ausgeschlossen - aber Wunder gibt es, das steht fest. Nun, wenn ich dereinst
sterbe in Messina, und auf dem Sterbelager kommt mir der Gedanke: Damals in
Paris, an jenem Abend, hast du vor einem Wunder die Augen zugemacht...? Das
wure nicht sehr angenehm, Baldini! Soll der Narr die paar Tropfen Rosenul
und Moschustinktur verkleckern, du selbst huttest sie auch verkleckert, wenn
dich das Parfum von Pelissier noch wirklich interessierte. Und was sind
schon die paar Tropfen - wiewohl teuer, sehr, sehr teuer! - gemessen an der
Sicherheit des Wissens und an einem ruhigen Lebensabend?
"Pass auf!" sagte er mit kunstlich strenger Stimme, "pass auf! Ich... -
wie heisst du uberhaupt?"
"Grenouille", sagte Grenouille. "Jean-Baptiste Grenouille."
"Aha", sagte Baldini. "Also pass auf, Jean-Baptiste Grenouille! Ich
habe es mir uberlegt. Du sollst die Gelegenheit bekommen, jetzt, sofort,
deine Behauptung zu beweisen. Dies ist zugleich eine Gelegenheit fur dich,
durch ein eklatantes Scheitern die Tugend der Bescheidenheit zu lernen,
welche - in deinem jungen Alter vielleicht verzeihlicherweise noch kaum
entwickelt - eine unabdingbare Voraussetzung fur dein sputeres Fortkommen
als Mitglied deiner Zunft und deines Standes, als Ehemann, als Untertan, als
Mensch und als ein guter Christ sein wird. Ich bin bereit, dir diese Lehre
auf meine Kosten zu erteilen, denn aus bestimmten Grunden bin ich heute
spendabel aufgelegt, und, wer weiß, vielleicht wird mir eines Tages
die Ruckerinnerung an diese Szene etwas Heiterkeit bereiten. Aber glaube
nicht, du kunntest mich ubertulpeln! Giuseppe Baldinis Nase ist alt, aber
sie ist scharf, scharf genug, auch den kleinsten Unterschied zwischen deiner
Mixtur und diesem Produkt hier" - und dabei zog er sein >Amor und
Psyche< - getrunktes Tuchlein aus der Tasche und wedelte es Grenouille
vor die Nase - "sofort festzustellen. Tritt nuher, beste Nase von Paris!
Tritt nuher an diesen Tisch und zeige, was du kannst! Doch gib acht, dass du
mir nichts umstußt und herunterwirfst! Ruhre mir nichts an! Erst will
ich mehr Licht machen. Wir wollen große Beleuchtung haben fur dieses
kleine Experiment, nicht wahr?"
Und damit nahm er zwei andere Leuchter, die am Rand des großen
Eichentisches standen, und zundete sie an. Er postierte sie alle drei
nebeneinander an der hinteren Lungsseite, schob das Leder beiseite, ruumte
den mittleren Teil des Tisches frei. Dann, mit zugleich ruhigen und raschen
Griffen, holte er die Gerute, die das Geschuft erforderte, von einem kleinen
Gestell: die große bauchige Mischflasche, den glusernen Trichter, die
Pipette, das kleine und das große Messglas, und stellte sie
wohlgeordnet vor sich auf die Eichenplatte.
Grenouille hatte sich inzwischen vom Turrahmen gelust. Schon wuhrend
Baldinis pompuser Rede war das Versteifte, lauernd Verdruckte von ihm
abgefallen. Er hurte nur die Zustimmung, nur das Ja, mit dem innern Jubel
eines Kindes, das sich ein Zugestundnis ertrotzt hat und auf die
Einschrunkungen, Bedingungen und moralischen Ermahnungen, die sich daran
knupfen, pfeift. Locker dastehend, einem Menschen zum ersten Mal uhnlicher
als einem Tier, ließ er den Rest von Baldinis Suada uber sich ergehen
und wusste, dass er diesen Mann, der ihm nun nachgab, schon uberwultigt
hatte.
Wuhrend Baldini noch mit seinen Kerzenleuchtern auf dem Tisch
hantierte, schlupfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt,
wo die Regale mit den kostbaren Essenzen, ulen und Tinkturen standen, und
griff sich, der sicheren Witterung seiner Nase folgend, die benutigten
Fluschchen von den Borden. Neun waren es an der Zahl: Orangenblutenessenz,
Limettenul, Nelken- und Rosenul, Jasmin-, Bergamotte- und Rosmarinextrakt,
Moschustinktur und Storaxbalsam, die er sich rasch herunterpfluckte und am
Rand des Tisches zurechtstellte. Als letztes schleppte er einen Ballon mit
hochprozentigem Weingeist heran. Dann stellte er sich hinter Baldini, der
noch immer mit beduchtiger Pedanterie seine Mischgefuße arrangierte,
dieses Glas ein wenig dahin ruckte, jenes noch ein wenig dorthin, damit
alles seine gute altgewohnte Ordnung habe und sich im vorteilhaftesten Licht
der Leuchter prusentiere - und wartete, zitternd vor Ungeduld, dass der Alte
sich entferne und ihm Platz mache.
"So!" sagte Baldini endlich und trat zur Seite. "Hier ist alles
aufgereiht, was du fur dein - nennen wir es freundlicherweise
>Experiment< benutigst. Zerbrich mir nichts, vertropfe mir nichts!
Denn merke: Diese Flussigkeiten, mit denen du jetzt funf Minuten lang
hantieren darfst, sind von einer Kostbarkeit und Seltenheit, wie du sie nie
wieder in deinem Leben in so konzentrierter Form in Hunden halten wirst!"
"Wie viel soll ich Ihnen machen, Maitre?" fragte Grenouille."Was
machen...?" sagte Baldini, der seine Rede noch nicht beendet hatte. "Wie
viel von dem Parfum?" schnarrte Grenouille, "wie viel davon wollen Sie
haben? Soll ich diese dicke Flasche bis zum Rand vollfullen?" Und er deutete
auf eine Mischflasche, die gut und gerne drei Liter fasste.
"Nein, das sollst du nicht!" schr ie Baldini entsetzt, und es schrie
aus ihm die ebenso tief verwurzelte wie spontane Angst vor der Verschwendung
seines Eigentums. Und als geniere er sich uber diesen entlarvenden Schrei,
brullte er gleich hinterher: "Und in die Rede fallen sollst du mir auch
nicht!" um dann in ruhigerem, ironisch eingefurbtem Ton fortzufahren: "Wozu
brauchen wir drei Liter von einem Parfum, das wir beide nicht schutzen? Im
Grunde genugte ein halber Messbecher voll. Da solch kleine Quantituten
jedoch unpruzis zu mischen sind, will ich dir gestatten, eine Drittelfullung
der Mischflasche anzusetzen."
"Gut", sagte Grenouille. "Ich werde diese Flasche zu einem Drittel mit
>Amor und Psyche< fullen. Aber, Maitre Baldini, ich mache es auf meine
Art. Ich weiß nicht, ob das die zunftige Art ist, denn die kenne ich
nicht, aber ich mache es auf meine Art."
"Bitte!" sagte Baldini, der wusste, dass es bei diesem Geschuft nicht
meine oder deine, sondern eben nur eine, eine einzig mugliche und richtige
Art gab, die darin bestand, in Kenntnis der Formel und unter entsprechender
Umrechnung auf die zu erzielende Endmenge ein aufs Exakteste vermessenes
Konzentrat aus den verschiedenen Essenzen herzustellen, welches daraufhin
mit Alkohol in einem wiederum exakten Verhultnis, das meistens zwischen eins
zu zehn und eins zu zwanzig schwankte, zum endgultigen Parfum vergeistigt
werden musste. Eine andre Art, das wusste er, gab es nicht. Und deshalb
musste ihm das, was er nun zu sehen bekam und was er zunuchst mit
sputtischer Distanz, dann mit Verwirrung und schließlich nur noch mit
hilflosem Erstaunen beobachtete, als schieres Wunder erscheinen. Und die
Szene utzte sich so in sein Geduchtnis ein, dass er sie bis ans Ende seiner
Tage nicht mehr vergaß.
15
Der kleine Mensch Grenouille entkorkte als erstes den Ballon mit
Weingeist. Er hatte Muhe, das schwere Gefuß hochzuwuchten. Fast bis in
Kopfhuhe musste er es heben, denn so hoch stand die Mischflasche mit dem
aufgesetzten Glastrichter, in den er, ohne Zuhilfenahme eines Messbechers,
den Alkohol direkt aus dem Ballon goss. Baldini schauderte vor so viel
geballtem Unvermugen: Nicht nur, dass der Kerl die parfumistische
Weltordnung auf den Kopf stellte, indem er mit dem Lusungsmittel anfing,
ohne das zu lusende Konzentrat zu besitzen - er war auch kaum physisch dazu
in der Lage! Er zitterte vor Anstrengung, und Baldini rechnete jeden Moment
damit, dass der schwere Ballon herunterkrachen und alles auf dem Tisch
zertrummern werde. Die Kerzen, dachte er, um Gottes willen, die Kerzen! Es
wird eine Explosion geben, er wird mein Haus abbrennen...! Und er wollte
schon hinsturzen, um dem Verruckten den Ballon zu entreißen, als
Grenouille ihn selber absetzte, heil zu Boden brachte und wieder verkorkte.
In der Mischflasche schwankte die leichte klare Flussigkeit - es war kein
Tropfen danebengegangen. Fur ein paar Momente verschnaufte sich Grenouille
und machte dabei ein so zufriedenes Gesicht, als habe er den
beschwerlichsten Teil der Arbeit schon hinter sich. Und in der Tat ging das
Folgende mit einer derartigen Geschwindigkeit vonstatten, dass Baldini mit
den Augen kaum folgen konnte, geschweige denn eine Reihenfolge oder auch nur
einen irgendwie geregelten Ablauf des Geschehens hutte erkennen kunnen.
Anscheinend wahllos griff Grenouille in die Reihe der Flakons mit den
Duftessenzen, riss die Glasstupsel heraus, hielt sich den Inhalt fur eine
Sekunde unter die Nase, schuttete dann von diesem, trupfelte von einem
anderen, gab einen Schuss von einem dritten Fluschchen in den Trichter und
so fort. Pipette, Reagenzglas, Messglas, Luffelchen und Ruhrstab - all die
Gerute, die den komplizierten Mischprozess fur den Parfumeur beherrschbar
machen, ruhrte Grenouille kein einziges Mal an. Es war, als spiele er nur,
als pritschle und pansche er wie ein Kind, das aus Wasser, Gras und Dreck
einen scheußlichen Sud kocht und dann behauptet, es sei eine Suppe.
Ja, wie ein Kind, dachte Baldini; er sieht auch mit einem Mal aus wie ein
Kind, trotz seinen klobigen Hunden, trotz seinem vernarbten, zerkerbten
Gesicht und der knolligen Altmunnernase. Ich habe ihn fur ulter gehalten,
als er ist, und jetzt kommt er mir junger vor; wie drei oder vier kommt er
mir vor; wie diese unzugunglichen, unbegreiflichen, eigensinnigen kleinen
Vormenschen, die, angeblich unschuldig, nur an sich selber denken, die alles
auf der Welt sich despotisch unterordnen wollen und es wohl auch tun wurden,
wenn man sie in ihrem Grußenwahn gewuhren ließe und nicht durch
strengste erzieherische Maßnahmen nach und nach disziplinierte und an
die selbstbeherrschte Existenz des Vollmenschen heranfuhrte. Ein solch
fanatisches Kleinkind steckte in diesem jungen Mann, der mit gluhenden Augen
am Tisch stand und seine ganze Umgebung vergessen hatte, offenbar gar nicht
mehr wusste, dass es noch etwas andres gab in der Werkstatt außer ihm
und diesen Flaschen, die er mit behender Tapsigkeit an den Trichter fuhrte,
um sein wahnsinniges Gebruu zu mischen, von dem er hinterher todsicher
behaupten wurde - und auch noch daran glaubte! - es sei das erlesene Parfum
>Amor und Psyche<. Es schauderte Baldini, als er dem im flackernden
Kerzenlicht so grußlich verkehrt und so grußlich selbstbewusst
hantierenden Menschen zusah: Seinesgleichen - so dachte er, und ihm war fur
einen Moment wieder so traurig und elend und wutend zumute wie am
Nachmittag, als er auf die in der Dummerung rotgluhende Stadt geblickt hatte
seinesgleichen hutte es fruher nicht gegeben; das war ein ganz neues
Exemplar der Gattung, wie es nur in dieser maroden, verlotterten Zeit
entstehen konnte... Aber er sollte seine Lehre bekommen, der prupotente
Bursche! Zusammenputzen wurde er ihn am Ende dieser lucherlichen Auffuhrung,
dass er davonschlich als das geduckte Huuflein Nichts, als welches er
gekommen war. Geschmeiß! Man durfte sich uberhaupt mit niemandem mehr
einlassen heutzutage, denn es wimmelte von lucherlichem Geschmeiß!
So beschuftigt war Baldini mit seiner inneren Empurung und seinem Ekel
vor der Zeit, dass er nicht recht begriff, was es bedeuten sollte, als
Grenouille plutzlich sumtliche Flakons verstupselte, den Trichter aus der
Mischflasche zog, die Flasche selbst mit einer Hand am Halse packte, sie mit
der flachen linken Hand verschloss und heftig schuttelte. Erst als die
Flasche mehrmals durch die Luft gewirbelt war, ihr kostbarer Inhalt wie
Limonade vom Bauch in den Hals und zuruck sturzte, stieß Baldini einen
Wut- und Entsetzensschrei aus. "Halt!" kreischte er. "Genug jetzt! Hur
augenblicklich auf! Basta! Stell sofort die Flasche auf den Tisch und ruhre
nichts mehr an, verstehst du, nichts mehr! Ich muss wahnsinnig gewesen sein,
mir dein turichtes Geschwutz uberhaupt anzuhuren. Die Art und Weise, wie du
mit den Dingen umgehst,deine Grobheit, dein primitiver Unverstand zeigen
mir, dass du ein Stumper bist, ein barbarischer Stumper und ein lausiger
frecher Rotzbengel obendrein. Du taugst nicht mal zum Limonadenmischer,
nicht einmal zum einfachsten Lakritzwasserverkuufer taugst du, geschweige
denn zum Parfumeur! Sei froh, sei dankbar und zufrieden, wenn dich dein
Meister weiterhin mit Gerberbruhe panschen lusst! Wage es nicht noch einmal,
hurst du mich? Wage es nicht noch einmal, deinen Fuß uber die Schwelle
eines Parfumeurs zu setzen!"
So sprach Baldini. Und wuhrend er noch sprach, war der Raum um ihn
herum schon duftgesuttigt von >Amor und Psyche<. Es gibt eine
uberzeugungskraft des Duftes, die sturker ist als Worte, Augenschein, Gefuhl
und Wille. Die uberzeugungskraft des Duftes ist nicht abzuwehren, sie geht
in uns hinein wie die Atemluft in unsere Lungen, sie erfullt uns, fullt uns
vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie.
Grenouille hatte die Flasche abgesetzt, die mit Parfum benetzte Hand
vom Hals genommen und an seinem Rocksaum abgewischt. Ein, zwei Schritt
zuruck, das linkische Zusammenklappen seines Kurpers unter Baldinis
Standpauke schlugen genugend Wellen in der Luft, um den neugeschaffnen Duft
ringsum zu verbreiten. Mehr war nicht nutig. Zwar, Baldini tobte noch und
zeterte und schimpfte; doch mit jedem Atemzug fand seine uußerlich zur
Schau gestellte Wut im Innern weniger Nahrung. Ihm schwante, dass er
widerlegt war, weswegen seine Rede sich gegen Ende nur noch in hohles Pathos
steigern konnte. Und als er schwieg, eine Weile lang geschwiegen hatte,
brauchte es gar nicht mehr Grenouilles Bemerkung: "Es ist fertig." Er wusste
es ohnehin.
Aber trotzdem, obwohl ihn mittlerweile von allen Seiten her die
>Amor-und-Psyche<-schwere Luft umwallte, trat er an den alten
Eichentisch, um eine Probe vorzunehmen. Zog ein frisches, schneeweißes
Spitzentuchlein aus der Rocktasche, aus der linken, entfaltete es und tupfte
darauf ein paar Tropfen, die er mit der langen Pipette aus der Mischflasche
gezogen hatte. Schwenkte das Tuchlein am ausgestreckten Arm, um es zu
aerieren, und zog es dann mit der geubten zierlichen Bewegung unter seiner
Nase hindurch, den Duft in sich einsaugend. Wuhrend er ihn ruckweise
ausstrumen ließ, setzte er sich auf einen Hocker. Er war zuvor von
seinem - Wutausbruch noch tiefrot im Gesicht gewesen - mit einem Mal ganz
blass geworden. "Unglaublich", murmelte er leise vor sich hin, "bei Gott -
unglaublich."
Und wieder und wieder druckte er die Nase gegen das Tuchlein und
schnuffelte und schuttelte den Kopf und murmelte "unglaublich.": Es war
>Amor und Psyche<, ohne den geringsten Zweifel >Amor und
Psyche<, das hassenswert geniale Duftgemisch, so pruzise kopiert, dass
nicht einmal Pelissier selber es von seinem Produkt wurde unterscheiden
kunnen. "Unglaublich..."
Klein und blass saß der große Baldini auf dem Hocker und
sah lucherlich aus mit seinem Tuchlein in der Hand, das er wie eine
verschnupfte Jungfer gegen die Nase druckte. Die Sprache hatte es ihm nun
vollstundig verschlagen. Er sagte nicht einmal "unglaublich" mehr, sondern
stieß nur noch, indem er fortwuhrend leise nickte und auf den Inhalt
der Mischflasche starrte, ein monotones "Hm, hm, hm...hm, hm, hm...hm, hm,
hm.." aus. Nach einer Weile nuherte sich Grenouille und trat lautlos wie ein
Schatten an den Tisch.
"Es ist kein gutes Parfum", sagte er, "es ist sehr schlecht
zusammengesetzt, dieses Parfum."
"Hm, hm, hm", sagte Baldini, und Grenouille fuhr fort: "Wenn Sie
erlauben, Maitre, will ich es verbessern. Geben Sie mir eine Minute, und ich
mache Ihnen ein anstundiges Parfum daraus!"
"Hm, hm, hm", sagte Baldini und nickte. Nicht weil er zustimmte,
sondern weil er eben in einem so hilflos apathischen Zustand war, dass er zu
allem und jedem "hm, hm, hm" gesagt und genickt hutte. Und er nickte auch
weiter und murmelte "hm, hm, hm" und machte keine Anstalten einzugreifen,
als Grenouille zum zweiten Mal zu mischen anfing, ein zweites Mal den
Weingeist aus dem Ballon in die Mischflasche goss, zum bereits darin
befindlichen Parfum hinzu, zum zweiten Mal den Inhalt der Flakons in
scheinbar wahlloser Reihenfolge und Menge in den Trichter kippte. Erst gegen
Ende der Prozedur - Grenouille schuttelte die Flasche diesmal nicht, sondern
schwenkte sie nur sachte wie ein Cognacglas, vielleicht mit Rucksicht auf
Baldinis Zartgefuhl, vielleicht weil ihm der Inhalt diesmal kostbarer
erschien - erst jetzt also, als die Flussigkeit schon fertig in der Flasche
kreiselte, erwachte Baldini aus seinem betuubten Zustand und erhob sich, das
Tuchlein freilich immer noch vor die Nase gepresst, als wolle er sich gegen
einen neuerlichen Angriff auf sein Inneres wappnen.
"Es ist fertig, Maitre", sagte Grenouille. "Jetzt ist es ein recht
guter Duft."
"Jaja, schon gut, schon gut", erwiderte Baldini und winkte ab mit
seiner freien Hand.
"Wollen Sie nicht eine Probe nehmen?" gurgelte Grenouille weiter,
"wollen Sie nicht, Maitre? Keine Probe?"
"Sputer, bin jetzt nicht aufgelegt zu einer Probe... habe andere Sachen
im Kopf. Geh jetzt! Komm!"
Und er nahm einen der Leuchter und ging zur Tur hinaus, hinuber in den
Laden. Grenouille folgte ihm. Sie kamen in den schmalen Korridor, der zum
Dienstboteneingang fuhrte. Der Alte schlurfte auf die Pforte zu, riss den
Riegel zuruck und uffnete. Er trat beiseite, um den Jungen hinauszulassen.
"Darf ich nun bei Ihnen arbeiten, Maitre, darf ich?" fragte Grenouille,
schon auf der Schwelle stehend, wieder geduckt, wieder lauernden Auges.
"Ich weiß es nicht", sagte Baldini, "ich werde daruber
nachdenken. Geh!"
Und dann war Grenouille verschwunden, mit einem Mal weg, weggeschluckt
von der Dunkelheit. Baldini stand da und glotzte in die Nacht. In der
rechten Hand hielt er den Leuchter, in der linken das Tuchlein, wie einer,
der Nasenbluten hat, und hatte doch nur Angst. Rasch riegelte er die Ture
zu. Dann nahm er das schutzende Tuch vom Gesicht, schob es in die Tasche und
ging durch den Laden in die Werkstatt zuruck. Der Duft war so himmlisch gut,
dass Baldini schlagartig das Wasser in die Augen trat. Er brauchte keine
Probe zu nehmen, er stand nur am Werktisch vor der Mischflasche und atmete.
Das Parfum war herrlich. Es war im Vergleich zu >Amor und Psyche< wie
eine Sinfonie im Vergleich zum einsamen Gekratze einer Geige. Und es war
mehr. Baldini schloss die Augen und sah sublimste Erinnerungen in sich
wachgerufen. Er sah sich als einen jungen Menschen durch abendliche Gurten
von Neapel gehen; er sah sich in den Armen einer Frau mit schwarzen Locken
liegen und sah die Silhouette eines Strauchs von Rosen auf dem Fenstersims,
uber das ein Nachtwind ging; er hurte versprengte Vugel singen und von Ferne
die Musik aus einer Hafenschenke; er hurte Flusterndes ganz dicht am Ohr, er
hurte ein Ich lieb dich und spurte, wie sich ihm vor Wonne die Haare
struubten, jetzt! jetzt in diesem Augenblick! Er riss die Augen auf und
stuhnte vor Vergnugen. Dieses Parfum war kein Parfum, wie man es bisher
kannte. Das war kein Duft, der besser riechen machte, kein Sentbon, kein
Toilettenartikel. Das war ein vullig neuartiges Ding, das eine ganze Welt
aus sich erschaffen konnte, eine zauberhafte, reiche Welt, und man
vergaß mit einem Schlag die Ekelhaftigkeiten um sich her und fuhlte
sich so reich, so wohl, so frei, so gut...
Die gestruubten Haare an Baldinis Arm legten sich, und eine beturende
Seelenruhe ergriff Besitz von ihm. Er nahm das Leder, das Ziegenleder, das
am Rand des Tisches lag und nahm ein Messer und schnitt das Leder zu. Dann
legte er die Stucke in die Wanne aus Glas und ubergoss sie mit dem neuen
Parfum. Er sturzte eine Glasplatte auf die Wanne, zog den Rest des Duftes
auf zwei Fluschchen, die er mit Etiketts versah, darauf schrieb er den Namen
>Nuit Napolitaine<. Dann luschte er das Licht und ging.
Oben bei seiner Frau beim Essen sagte er nichts. Vor allem sagte er
nichts von dem hochheiligen Entschluss, den er am Nachmittag gefasst hatte.
Auch seine Frau sagte nichts, denn sie merkte, dass er heiter war, und damit
war sie sehr zufrieden. Er ging auch nicht mehr hinuber nach Notre-Dame, um
Gott zu danken fur seine Charaktersturke. Ja, er vergaß an diesem Tag
sogar zum ersten Mal, zur Nacht zu beten.
16
Am nuchsten Morgen ging er schnurstracks zu Grimal.Als erster bezahlte
er das Ziegenleder, und zwar den vollen Preis, ohne Murren und ohne die
geringste Feilscherei. Und dann lud er Grimal zu einer Flasche
Weißwein in die Tour d'Argent ein und handelte ihm den Lehrling
Grenouille ab. Selbstverstundlich verriet er nicht, weshalb er ihn wollte
und wozu er ihn brauchte. Er schwindelte etwas daher von einem großen
Auftrag in Duftleder, zu dessen Bewultigung er einer ungelernten Hilfskraft
bedurfe. Einen genugsamen Burschen brauche er, der ihm einfachste Dienste
verrichte, Leder zuschneide und so weiter. Er bestellte noch eine Flasche
Wein und bot zwanzig Livre als Entschudigung fur die Unannehmlichkeit, die
er Grimal durch den Ausfall Grenouilles verursachte. Zwanzig Livre waren
eine enorme Summe. Grimal schlug sofort ein. Sie gingen in die Gerberei, wo
Grenouille sonderbarerweise schon mit gepacktem Bundel wartete, Baldini
zahlte seine zwanzig Livre und nahm ihn, im Bewusstsein, das beste Geschuft
seines Lebens gemacht zu haben, gleich mit.
Grimal, der seinerseits uberzeugt war, das beste Geschuft seines Lebens
gemacht zu haben, kehrte in die Tour d'Argent zuruck, trank dort zwei
weitere Flaschen Wein, zog dann gegen Mittag in den Lion d'Or am andern Ufer
um und besoff sich dort so hemmungslos, dass er, als er sput nachts abermals
in die Tour d'Argent umziehen wollte, die Rue Geoffroi L'Anier mit der Rue
des Nonaindieres verwechselte und somit, statt, wie er gehofft hatte, direkt
auf den Pont Marie zu stoßen, verhungnisvollerweise auf den Quai des
Ormes geriet, von wo aus er der Lunge nach mit dem Gesicht voraus ins Wasser
platschte wie in ein weiches Bett. Er war augenblicklich tot. Der Fluss aber
brauchte noch geraume Zeit, ihn vom seichten Ufer weg, an den vertuuten
Lastkuhnen vorbei, in die sturkere mittlere Strumung zu ziehen, und erst in
den fruhen Morgenstunden schwamm der Gerber Grimal, oder vielmehr seine
nasse Leiche, in flotterer Fahrt flussabwurts, gen Westen.
Als er den Pont au Change passierte, lautlos, ohne an den
Bruckenpfeiler anzuecken, ging Jean-Baptiste Grenouille zwanzig Meter uber
ihm gerade zu Bett. Er hatte in der hinteren Ecke von Baldinis Werkstatt
eine Pritsche hingestellt bekommen, von der er nun Besitz ergriff, wuhrend
sein ehemaliger Brotherr, alle viere von sich gestreckt, die kalte Seine
hinunter schwamm. Wohlig rollte er sich zusammen und machte sich klein wie
der Zeck. Mit beginnendem Schlaf versenkte er sich tiefer und tiefer in sich
hinein und hielt triumphalen Einzug in seiner inneren Festung, auf der er
sich ein geruchliches Siegesfest ertruumte, eine gigantische Orgie mit
Weihrauchqualm und Myrrhendampf, zu Ehren seiner selbst.
17
Mit dem Erwerb von Grenouille begann der Aufstieg des Hauses Giuseppe
Baldini zu nationalem, ja europuischem Ansehen. Das persische Glockenspiel
stand nicht mehr still, und die Reiher hurten nicht mehr auf zu speien im
Laden auf dem Pont au Change.
Am ersten Abend noch musste Grenouille einen großen Ballon
>Nuit Napolitaine< ansetzen, von dem im Laufe des folgenden Tages uber
achtzig Flakons verkauft wurden. Der Ruf des Duftes verbreitete sich mit
rasender Geschwindigkeit. Chenier bekam ganz glasige Augen vom Geldzuhlen
und einen schmerzenden Rucken von den tiefen Bucklingen, die er verrichten
musste, denn es erschienen hohe und huchste Herrschaften, oder zumindest die
Diener von hohen und huchsten Herrschaften. Und einmal flog sogar die Tur
auf, dass es nur so schepperte, und herein trat der Lakai des Grafen
d'Argenson und schrie, wie nur Lakaien schreien kunnen, dass er funf
Flaschen von dem neuen Duft haben wolle, und Chenier zitterte noch eine
Viertelstunde sputer vor Ehrfurcht, denn der Graf d'Argenson war Intendant
und Kriegsminister Seiner Majestut und der muchtigste Mann von Paris.
Wuhrend Chenier im Laden allein dem Ansturm der Kundschaft ausgesetzt
war, hatte sich Baldini mit seinem neuen Lehrling in der Werkstatt
eingeschlossen. Chenier gegenuber rechtfertigte er diesen Umstand mit einer
phantastischen Theorie, die er als "Arbeitsteilung und Rationalisierung"
bezeichnete. Jahrelang, so erklurte er, habe er geduldig mitangesehen, wie
Pelissier und seinesgleichen zunftverachtende Gestalten ihm die Kundschaft
abspenstig gemacht und das Geschuft versaut hutten. Jetzt sei sein Langmut
zu Ende. Jetzt nehme er die Herausforderung an und schlage wider diese
frechen Parvenus zuruck, und zwar mit deren eigenen Mitteln: Zu jeder
Saison, jeden Monat, wenn es sein musste auch jede Woche, werde er mit neuen
Duften auftrumpfen, und mit was fur welchen! Er wolle aus dem vollen seiner
kreativen Ader schupfen. Und dazu sei es nutig, dass er - unterstutzt allein
von einer ungelernten Hilfskraft - ganz und ausschließlich die
Produktion der Dufte betreibe, wuhrend Chenier sich ausschließlich
deren Verkauf zu widmen habe. Mit dieser modernen Methode werde man ein
neues Kapitel in der Geschichte der Parfumerie aufschlagen, die Konkurrenz
hinwegfegen und unermesslich reich werden - ja, er sage bewusst und
ausdrucklich "man", denn er gedenke, seinen altgedienten Gesellen an diesen
unermesslichen Reichtumern mit einem bestimmten Prozentsatz zu beteiligen.
Vor wenigen Tagen noch hutte Chenier solche Reden seines Meisters als
Anzeichen eines beginnenden Alterswahnsinns gedeutet. Jetzt ist er reif fur
die Charitu<, hutte er gedacht, >jetzt kann's nicht mehr lange dauern,
bis er das Pistill endgultig aus der Hand legt. < Nun aber dachte er
nichts mehr. Er kam gar nicht mehr dazu, er hatte einfach zu viel zu tun. Er
hatte so viel zu tun, dass er abends vor Erschupfung kaum noch in der Lage
war, die pralle Kasse auszuleeren und sich seinen Anteil abzuzweigen. Er kam
nicht im Traum darauf zu zweifeln, dass es mit rechten Dingen zuging, wenn
Baldini beinahe tuglich mit irgendeinem neuen Duft aus seiner Werkstatt
trat.
Und was fur Dufte waren das! Nicht nur Parfums der huchsten,
allerhuchsten Schule, sondern auch Cremes und Puder, Seifen, Haarlotionen,
Wusser, ule ... Alles, was zu duften hatte, duftete jetzt neu und anders und
herrlicher als je zuvor. Und auf alles, aber wirklich alles, selbst auf die
neuartigen Dufthaarbunder, die Baldinis kuriose Laune eines Tages
hervorbrachte, sprang das Publikum los wie behext, und Preise spielten keine
Rolle. Alles, was Baldini produzierte, wurde ein Erfolg. Und der Erfolg war
dermaßen uberwultigend, dass Chenier ihn wie ein Naturereignis hinnahm
und nicht mehr nach seinen Ursachen forschte. Dass etwa der neue Lehrling,
der unbeholfene Gnom, der in der Werkstatt hauste wie ein Hund und den man
manchmal, wenn der Meister heraustrat, im Hintergrund stehen und Gluser
wischen und Murser putzen sah - dass dieses Nichts von Mensch etwas zu tun
haben sollte mit dem sagenhaften Aufbluhen des Geschufts, das hutte Chenier
nicht einmal dann geglaubt, wenn man es ihm gesagt hutte.
Naturlich hatte der Gnom alles damit zu tun. Das, was Baldini in den
Laden brachte und Chenier zum Verkauf uberließ, war nur ein Bruchteil
dessen, was Grenouille hinter verschlossenen Turen zusammenmischte. Baldini
kam mit dem Riechen nicht mehr nach. Es war ihm manchmal eine regelrechte
Qual, unter den Herrlichkeiten, die Grenouille hervorbrachte, eine Wahl zu
treffen. Dieser Zauberlehrling hutte alle Parfumeure Frankreichs mit
Rezepten versorgen kunnen, ohne sich zu wiederholen, ohne auch nur ein Mal
etwas Minderwertiges oder auch nur Mittelmußiges hervorzubringen. -
Das heisst, mit Rezepten, also Formeln, hutte er sie eben nicht versorgen
kunnen, denn zunuchst komponierte Grenouille seine Dufte noch auf jene
chaotische und vullig unprofessionelle Manier, die Baldini schon kannte,
indem er numlich aus der freien Hand in scheinbar wildem Durcheinander
Ingredienzien mischte. Um das verruckte Geschuft, wenn nicht zu
kontrollieren, so doch wenigstens begreifen zu kunnen, verlangte Baldini
eines Tages von Grenouille, er muge sich, auch wenn er das fur unnutig
halte, beim Ansetzen seiner Mischungen der Waage, des Messbechers und der
Pipette bedienen; er muge sich ferner angewuhnen, den Weingeist nicht als
Duftstoff zu begreifen, sondern als Lusungsmittel, welches erst im
nachhinein zuzusetzen sei; und ermuge schließlich um Gottes willen
langsam hantieren, gemuchlich und langsam, wie es sich fur einen Handwerker
gehure.
Grenouille tat das. Und zum ersten Mal war Baldini in der Lage, die
einzelnen Handhabungen des Hexenmeisters zu verfolgen und zu dokumentieren.
Mit Feder und Papier saß er neben Grenouille und notierte, immer
wieder zur Langsamkeit mahnend, wie viel Gramm von diesem, wie viel
Messstriche von jenem, wie viel Tropfen von einem dritten Ingredienz in die
Mischflasche wanderten. Auf diese sonderbare Weise, indem er numlich einen
Vorgang nachtruglich mit eben jenen Mitteln analysierte, ohne deren
vorherigen Gebrauch er eigentlich gar nicht hutte stattfinden durfen,
gelangte Baldini endlich doch in den Besitz der synthetischen Vorschrift.
Wie Grenouille ohne diese in der Lage war, seine Parfums zu mixen, blieb fur
Baldini zwar weiterhin ein Rutsel, vielmehr ein Wunder, aber wenigstens
hatte er das Wunder jetzt auf eine Formel gebracht und damit seinen nach
Regeln durstenden Geist einigermaßen befriedigt und sein
parfumistisches Weltbild vor dem vollstundigen Kollaps bewahrt.
Nach und nach entlockte er Grenouille die Rezepturen sumtlicher
Parfums, die dieser bisher erfunden hatte, und er verbot ihm
schließlich sogar, neue Dufte anzusetzen, ohne dass er, Baldini, mit
Feder und Papier zugegen war, den Prozess mit Argusaugen beobachtete und
Schritt fur Schritt dokumentierte. Seine Notizen, bald viele Dutzende von
Formeln, ubertrug er dann penibel mit gestochener Schrift in zwei
verschiedene Buchlein, deren eines er in seinen feuerfesten Geldschrank
einschloss und deren anderes er stundig bei sich trug und mit dem er nachts
auch schlafen ging. Das gab ihm Sicherheit. Denn nun konnte er, wenn er
wollte, Grenouilles Wunder selber nachvollziehen, die ihn, als er sie zum
erstenmal erlebte, tief erschuttert hatten. Mit seiner schriftlichen
Formelsammlung glaubte er, das entsetzliche schupferische Chaos, welches aus
dem Innern seines Lehrlings hervorquoll, bannen zu kunnen. Auch hatte die
Tatsache, dass er nicht mehr bloß blude staun