nguedoc und in den
Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der Burgermeister
anstandslos zu Protokoll und erstattete uber den Vorfall Bericht an den
Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des
Parlaments in Toulouse.
Der Marquis hatte schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den
Rucken gekehrt, sich auf seine Guter zuruckgezogen und dort den
Wissenschaften gelebt. Aus seiner Feder stammte ein bedeutendes Werk uber
dynamische Nationalukonomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf
Grundbesitz und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einfuhrung einer
umgekehrt progressiven Einkommenssteuer vorschlug, die den urmsten am
hurtesten traf und ihn somit zur sturkeren Entfaltung seiner
wirtschaftlichen Aktivituten zwang. Durch den Erfolg des Buchleins
ermuntert, verfasste er ein Traktat uber die Erziehung von Knaben und
Mudchen im Alter zwischen funf und zehn Jahren, wandte sich hierauf der
experimentellen Landwirtschaft zu und versuchte, durch die ubertragung von
Stiersamen auf verschiedene Grassorten ein animalovegetabiles
Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung zu zuchten, eine Art Euterblume. Nach
anfunglichen Erfolgen, die ihn sogar zur Herstellung eines Kuses aus
Grasmilch befuhigten, der von der Wissenschaftlichen Akademie von Lyon als
>von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer< bezeichnet
wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise
uber die Felder verspruhten Stiersamens einstellen. Immerhin hatte die
Beschuftigung mit agrarbiologischen Problemen sein Interesse nicht nur an
der sogenannten Ackerscholle, sondern an der Erde uberhaupt und an ihrer
Beziehung zur Biosphure geweckt.
Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet,
sturzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay
uber die Zusammenhunge zwischen Erdnuhe und Vitalkraft. Seine These war,
dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln
kunne, da die Erde selbst stundig ein Verwesungsgas verstrume, ein
sogenanntes "fluidum letale", welches die Vitalkrufte lahme und uber kurz
oder lang vollstundig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen
bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wuchsen also von
ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trugen sie ihre wertvollsten
Teile himmelwurts: das Korn die uhre, die Blume ihre Blute, der Mensch den
Kopf; und deshalb mussten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur
Erde hinkrumme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch
den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten.
Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in
Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer Huhle
- also vullig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er
außer sich vor Entzucken und ließ Grenouille sofort zu sich in
sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer grundlichen Untersuchung
unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie bestutigt: Das fluidum
letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein
funfundzwanzigjuhriger Kurper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen
aufwies. Einzig die Tatsache - so erklurte Taillade-Espinasse -, dass
Grenouille wuhrend seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen,
vermutlich Brot und Fruchte, zugefuhrt worden seien, habe seinen Tod
verhindert. Nun kunne der fruhere Gesundheitszustand nur wiederhergestellt
werden durch die grundliche Austreibung des Fluidums vermittels eines von
ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations- Apparates. Einen
solchen habe er im Speicher seines Stadtpalais in Montpellier stehen, und
wenn Grenouille bereit wure, sich als wissenschaftliches
Demonstrationsobjekt zur Verfugung zu stellen, wolle er ihn nicht nur von
seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch ein
gutes Stuck Geld zukommen lassen...
Zwei Stunden sputer saßen sie im Wagen. Obwohl sich die
Straßen in einem miserablen Zustand befanden, schafften sie die
vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis
ließ es sich trotz seines vorgeschrittenen Alters nicht nehmen,
persunlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel-
und Federbruchen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von seiner
Trouvaille, so begierig, sie raschestens einer gebildeten uffentlichkeit zu
prusentieren. Grenouille hingegen durfte die Kutsche kein einziges Mal
verlassen. Er hatte in seinen Lumpen, von einer mit feuchter Erde und Lehm
getrunkten Decke vollstundig umhullt, dazusitzen. Zu essen bekam er wuhrend
der Reise rohes Wurzelgemuse. Auf diese Weise hoffte der Marquis, die
Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren.
In Montpellier angekommen, ließ er Grenouille sofort in den
Keller seines Palais verbringen, verschickte Einladungen an sumtliche
Mitglieder der medizinischen Fakultut, des Botanikervereins, der
Landwirtschaftsschule, der chemo-physikalischen Vereinigung, der
Freimaurerloge und der ubrigen Gelehrtengesellschaften, deren die Stadt
nicht weniger als ein Dutzend besaß. Und einige Tage sputer - genau
eine Woche nachdem er die Bergeinsamkeit verlassen hatte - fand sich
Grenouille auf einem Podest in der großen Aula der Universitut von
Montpellier einer vielhundertkupfigen Menge als die wissenschaftliche
Sensation des Jahres prusentiert.
In seinem Vortrag bezeichnete ihn Taillade-Espinasse als den lebenden
Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie. Wuhrend er ihm
nach und nach die Lumpen vom Leibe riss, erklurte er den verheerenden
Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles Kurper ausgeubt habe: Da sehe
man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasverutzung; dort auf der Brust
ein riesiges glunzendrotes Gaskarzinom; allenthalben eine Zersetzung der
Haut; und sogar eine deutliche fluidale Verkruppelung des Skeletts, die als
Klumpfuß und Buckel sichtbar hervortrete. Auch seien die inneren
Organe Milz, Leber, Lunge, Galle und Verdauungstrakt schwer gasgeschudigt,
wie die Analyse einer Stuhlprobe, die sich in einer Schussel zu Fußen
des Demonstranten fur jedermann zugunglich befinde, zweifelsfrei erwiesen
habe. Zusammenfassend kunne daher gesagt werden, dass die Luhmung der
Vitalkrufte aufgrund siebenjuhriger Verseuchung durch >fluidum letale
Taillade< schon so weit fortgeschritten sei, dass Demonstrant - dessen
uußere Erscheinung im ubrigen bereits signifikant maulwurfhafte Zuge
aufweise - mehr als ein dem Tode denn als ein dem Leben zugewandtes Wesen
bezeichnet werden musse. Dennoch mache Referent sich anheischig, den an und
fur sich Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit
Vitaldiut innerhalb von acht Tagen wieder soweit herzustellen, dass die
Anzeichen fur eine vollstundige Heilung jedermann in die Augen springen
werde, und fordere die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der
dann freilich als gultiger Beweis fur die Richtigkeit der letalen
Erdfluidumstheorie angesehen werden musse, binnen Wochenfrist zu uberzeugen.
Der Vortrag war ein Riesenerfolg. Heftig applaudierte das gelehrte
Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem
Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten
Narben und Verkruppelungen sah er tatsuchlich so beeindruckend furchterlich
aus, dass ihn jedermann fur halb verwest und unrettbar verloren hielt,
obwohl er selbst sich durchaus gesund und kruftig fuhlte. Manche der Herren
beklopften ihn fachmunnisch, vermaßen ihn, schauten ihm in Mund und
Auge. Einige richteten das Wort an ihn und erkundigten sich nach seinem
Huhlenleben und nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich jedoch
streng an eine im voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete auf
solche Fragen nur mit einem gepressten Rucheln, wobei er mit beiden Hunden
hilflose Gesten gegen seinen Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch
dieser bereits vom >fluidum letale Taillade< zerfressen sei.
Am Ende der Veranstaltung packte ihn Taillade-Espinasse wieder ein und
verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines Palais. Dort schloss er
ihn im Beisein einiger ausgewuhlter Doktoren der medizinischen Fakultut in
den Vitalluftventilationsapparat, einen aus dichtverfugten Fichtenbrettern
gefertigten Verschlag, der mittels eines weit uber das Dach hinausreichenden
Ansaugekamins mit letalgasfreier Huhenluft durchflutet wurde, welche durch
eine am Boden angebrachte Lederventilklappe wieder entweichen konnte. In
Betrieb gehalten wurde die Anlage von einer Staffel von Bediensteten, die
Tag und Nacht dafur sorgten, dass die im Kamin eingebauten Ventilatoren
nicht zur Ruhe kamen. Und wuhrend Grenouille auf diese Weise von einem
stundigen reinigenden Luftstrom umgeben war, wurden ihm in stundlichem
Abstand durch ein seitlich eingearbeitetes doppelwandiges
Luftschleusenturchen diutetische Speisen erdferner Provenienz dargeboten:
Taubenbruhe, Lerchenpastete, Ragout von Flugenten, eingemachtes Baumobst,
Brot von extra hochwachsenden Weizensorten, Pyrenuenwein, Gemsenmilch und
Eischaumcreme von Huhnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden.
Funf Tage lang dauerte diese kombinierte Entseuchungs- und
Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis die Ventilatoren anhalten
und verbrachte Grenouille in einen Waschraum, wo er in Budern von lauwarmem
Regenwasser mehrere Stunden eingeweicht und schließlich mit
Nussulseife aus der Andenstadt Potosi von Kopf bis Fuß gewaschen
wurde. Man schnitt ihm die Finger- und Zehennugel, reinigte seine Zuhne mit
feingeschlummtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, kurzte und kummte seine Haare,
coiffierte und puderte sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und
Grenouille bekam ein seidenes Hemd verpasst, mit weißem Jabot und
weißen Ruschen an den Manschetten, seidene Strumpfe, Rock, Hose und
Weste aus blauem Samt und schune Schnallenschuhe von schwarzem Leder, deren
rechter geschickt den verkruppelten Fuß kaschierte. Huchsteigenhundig
legte der Marquis weiße Talkumschminke auf Grenouilles narbiges
Gesicht, tupfte ihm Karmesin auf Lippen und Wangen und verlieh den
Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich
edle Wulbung. Dann stuubte er ihn mit seinem persunlichen Parfum ein, einer
ziemlich simplen Veilchennote, trat einige Schritte zuruck und brauchte
lange Zeit, sein Entzucken in Worte zu fassen.
"Monsieur", begann er endlich, "ich bin von mir begeistert. Ich bin
erschuttert uber meine Genialitut. Ich habe an der Richtigkeit meiner
fluidalen Theorie zwar nie gezweifelt; naturlich nicht; sie aber in
praktizierter Therapie so herrlich bestutigt zu finden, erschuttert mich.
Sie waren ein Tier, und ich habe einen Menschen aus Ihnen gemacht. Eine
geradezu guttliche Tat. Erlauben Sie, dass ich geruhrt bin! - Treten Sie vor
diesen Spiegel dort, und schauen Sie sich an! Sie werden zum ersten Mal in
Ihrem Leben erkennen, dass Sie ein Mensch sind; kein besonders
außergewuhnlicher oder irgendwie hervorragender, aber doch immerhin
ein ganz passabler Mensch. Gehen Sie, Monsieur! Schauen Sie sich an, und
bestaunen Sie das Wunder, das ich an Ihnen vollbracht habe!"
Es war das erste Mal, dass jemand "Monsieur" zu Grenouille gesagt
hatte.
Er ging zum Spiegel und sah hinein. Bis dato hatte er auch noch nie in
einen Spiegel gesehen. Er sah einen Herrn in feinem blauem Gewand vor sich,
mit weißem Hemd und Seidenstrumpfen, und er duckte sich ganz
instinktiv, wie er sich immer vor solch feinen Herren geduckt hatte. Der
feine Herr aber duckte sich auch, und indem Grenouille sich wieder
aufrichtete, tat der feine Herr dasselbe, und dann erstarrten beide und
fixierten sich.
Was Grenouille am meisten verbluffte, war die Tatsache, dass er so
unglaublich normal aussah. Der Marquis hatte Recht: Er sah nicht besonders
aus, nicht gut, aber auch nicht besonders hußlich. Er war ein wenig
klein geraten, seine Haltung war ein wenig linkisch, das Gesicht ein wenig
ausdruckslos, kurz, er sah aus wie Tausende von anderen Menschen auch. Wenn
er jetzt hinunter auf die Straße ginge, wurde kein Mensch sich nach
ihm umdrehen. Nicht einmal ihm selbst wurde ein solcher, wie er jetzt war,
irgendwie auffallen, wenn er ihm begegnete. Es sei denn, er wurde riechen,
dass dieser jemand, außer nach Veilchen, sowenig ruche wie der Herr im
Spiegel und er selbst, der davorstand.
Und doch waren vor zehn Tagen die Bauern noch schreiend
auseinandergelaufen bei seinem Anblick. Er hatte sich damals nicht anders
gefuhlt als jetzt, und jetzt, wenn er die Augen schloss, fuhlte er sich kein
bisschen anders als damals. Er sog die Luft ein, die an seinem Kurper
aufstieg und roch das schlechte Parfum und den Samt und das frischgeleimte
Leder seiner Schuhe; er roch das Seidenzeug, den Puder, die Schminke, den
schwachen Duft der Seife aus Potosi. Und plutzlich wusste er, dass es nicht
die Taubenbruhe und der Ventilationshokuspokus gewesen waren, die einen
normalen Menschen aus ihm gemacht hatten, sondern einzig und allein die paar
Kleider, der Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade.
Er uffnete blinzelnd die Augen und sah, wie der Monsieur im Spiegel ihm
zublinzelte und wie ein kleines Lucheln um seine karmesinroten Lippen
strich, ganz so, als wolle er ihm signalisieren, dass er ihn nicht gunzlich
unsympathisch finde. Und auch Grenouille fand, dass der Monsieur im Spiegel,
diese als Mensch verkleidete, maskierte, geruchlose Gestalt, nicht so ganz
ohne sei; zumindest schien ihm, als kunnte sie wurde man ihre Maske nur
vervollkommnen - eine Wirkung auf die uußere Welt tun, wie er,
Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut hutte. Er nickte der Gestalt zu
und sah, dass sie, wuhrend sie wieder nickte, verstohlen die Nustern
bluhte...
31
Am folgenden Tag - der Marquis war gerade dabei, ihm die nutigsten
Posen, Gesten und Tanzschritte fur den bevorstehenden gesellschaftlichen
Auftritt beizubringen - fingierte Grenouille einen Schwindelanfall und
sturzte scheinbar vollkommen entkruftet und wie von Erstickung bedroht auf
einem Diwan nieder.
Der Marquis war außer sich. Er schrie nach den Dienern, schrie
nach Luftwedeln und tragbaren Ventilatoren, und wuhrend die Diener eilten,
kniete er an Grenouilles Seite nieder, fuchelte ihm mit seinem
veilchenduftgetrunkten Taschentuch Luft zu und beschwor, bebettelte ihn
regelrecht, doch ja sich wieder aufzurichten, doch ja nicht jetzt die Seele
auszuhauchen, sondern damit, wenn irgend muglich, noch bis ubermorgen
hinzuwarten, da sonst das uberleben der letalen Fluidaltheorie aufs
uußerste gefuhrdet sei.
Grenouille wand und krummte sich, keuchte, uchzte, fuchtelte mit seinen
Armen gegen das Taschentuch, ließ sich schließlich auf sehr
dramatische Weise vom Diwan fallen und verkroch sich in die entlegenste Ecke
des Zimmers. "Nicht dieses Parfum!" rief er wie mit allerletzter Kraft,
"nicht dieses Parfum! Es tutet mich!" Und erst als Taillade-Espinasse das
Taschentuch aus dem Fenster und seinen ebenfalls nach Veilchen riechenden
Rock ins Nebenzimmer geworfen hatte, ließ Grenouille seinen Anfall
abebben und erzuhlte mit ruhiger werdender Stimme, dass er als Parfumeur
eine berufsbedingt empfindliche Nase besitze und immer schon, besonders aber
jetzt in der Zeit der Genesung, auf gewisse Parfums sehr heftig reagiere.
Dass ausgerechnet der Duft des Veilchens, einer an und fur sich lieblichen
Blume, ihm so stark zusetze, kunne er sich nur dadurch erkluren, dass das
Parfum des Marquis einen hohen Bestandteil an Veilchenwurzelextrakt
enthalte, welcher wegen seiner unterirdischen Herkunft auf eine letal
fluidal angegriffene Person wie ihn, Grenouille, verderblich wirke. Schon
gestern, bei der ersten Applikation des Duftes, habe er sich ganz blumerant
gefuhlt und heute, als er den Wurzelgeruch abermals wahrgenommen habe, sei
ihm gar gewesen, als stoße man ihn zuruck in das entsetzliche stickige
Erdloch, in dem er sieben Jahre vegetiert habe. Seine Natur habe sich
dagegen empurt, anders kunne er nicht sagen, denn nachdem ihm einmal durch
die Kunst des Herrn Marquis ein Leben als Mensch in fluidalfreier Luft
geschenkt worden sei, sturbe er lieber sofort, als dass er sich noch einmal
dem verhassten Fluidum ausliefere. Noch jetzt krampfe sich alles in ihm
zusammen, wenn er bloß an das Wurzelparfum denke. Er glaube aber
zuversichtlich, dass er augenblicklich wiederhergestellt sein wurde, wenn es
ihm der Marquis gestatte, zur vollstundigen Austreibung des Veilchenduftes
ein eigenes Parfum zu entwerfen. Er denke dabei an eine besonders leichte,
aerierte Note, die hauptsuchlich aus erdfernen Ingredienzen wie Mandel- und
Orangenblutenwasser, Eukalyptus, Fichtennadelul und Zypressenul bestehe.
Einen Spritzer nur von einem solchen Duft auf seine Kleider, ein paar
Tropfen nur an Hals und Wangen - und er wure ein fur allemal gefeit gegen
eine Wiederholung des peinlichen Anfalls, der ihn soeben ubermannt habe...
Was wir hier der Verstundlichkeit halber in ordentlicher indirekter
Rede wiedergeben, war in Wirklichkeit ein halbstundiger, von vielen Hustern
und Keuchern und Atemnuten unterbrochener blubbernder Wortausbruch, den
Grenouille mit Gezittre und Gefuchtle und Augenrollen untermalte. Der
Marquis war schwer beeindruckt. Mehr noch als die Leidenssymptomatik
uberzeugte ihn die feine Argumentation seines Schutzlings, die ganz im Sinne
der letal fluidalen Theorie vorgebracht war. Naturlich das Veilchenparfum!
Ein widerlich erdnahes, ja sogar unterirdisches Produkt! Wahrscheinlich war
er selbst, der es seit Jahren benutzte, schon infiziert davon. Hatte keine
Ahnung, dass er sich Tag fur Tag durch diesen Duft dem Tode nuherbrachte.
Die Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das
Humorrhoid, der Ohrendruck, der faule Zahn - all das kam zweifelsohne von
dem Gestank der fluidaldurchseuchten Veilchenwurzel. Und dieser kleine dumme
Mensch, das Huuflein Elend in der Zimmerecke dort, hatte ihn daraufgebracht.
Er war geruhrt. Am liebsten wure er zu ihm gegangen, hutte ihn aufgehoben
und an sein aufgeklurtes Herz gedruckt. Aber er furchtete, noch immer nach
Veilchen zu duften, und so schrie er abermals nach den Dienern und befahl,
alles Veilchenparfum aus dem Hause zu entfernen, das ganze Palais zu luften,
seine Kleider im Vitalluftventilator zu entseuchen und Grenouille sofort in
seiner Sunfte zum besten Parfumeur der Stadt zu bringen. Genau dies aber
hatte Grenouille mit seinem Anfall bezweckt.
Das Duftwesen hatte alte Tradition in Montpellier, und obwohl es in
jungster Zeit im Vergleich zur Konkurrenzstadt Grasse etwas heruntergekommen
war, lebten doch noch etliche gute Parfumeur- und Handschuhmachermeister in
der Stadt. Der angesehenste unter ihnen, ein gewisser Runel, erklurte sich
im Hinblick auf die Geschuftsbeziehungen mit dem Hause desMarquis de la
Taillade-Espinasse, dessen Seifen-, ul- und Duftstofflieferant er war, zu
dem außergewuhnlichen Schritt bereit, sein Atelier fur eine Stunde dem
in der Sunfte herbeigeschafften sonderbaren Pariser Parfumeurgesellen
abzutreten. Dieser ließ sich nichts erkluren, wollte gar nicht wissen,
wo er was zu finden habe, er kenne sich schon aus, sagte er, finde sich
schon zurecht; und schloss sich in der Werkstatt ein und blieb dort eine
gute Stunde, wuhrend Runel mit dem Haushofmeister des Marquis auf ein paar
Gluser Wein in eine Schenke ging und dort erfahren musste, weswegen man sein
Veilchenwasser nicht mehr riechen kunne.
Runels Werkstatt und Laden waren bei weitem nicht so uppig ausgestattet
wie seinerzeit Baldinis Duftstoffhandlung in Paris. Mit den paar Blutenulen,
Wussern und Gewurzen hutte ein durchschnittlicher Parfumeur keine
großen Sprunge machen kunnen. Grenouille jedoch erkannte mit dem
ersten schnuppernden Atemzug, dass die vorhandenen Stoffe fur seine Zwecke
durchaus hinreichten. Er wollte keinen großen Duft kreieren; er wollte
kein Prestigewusserchen zusammenmischen wie damals fur Baldini, so eines,
das hervorstach aus dem Meer des Mittelmaßes und die Leute kirre
machte. Nicht einmal ein einfaches Orangenblutenduftchen, wie dem Marquis
versprochen, war sein eigentliches Ziel. Die gungigen Essenzen von Neroli,
Eukalyptus und Zypressenblatt sollten den eigentlichen Duft, den er sich
herzustellen vorgenommen hatte, nur kaschieren: dies aber war der Duft des
Menschlichen. Er wollte sich, und wenn es vorluufig auch nur ein schlechtes
Surrogat war, den Geruch der Menschen aneignen, den er selber nicht
besaß. Freilich den Geruch der Menschen gab es nicht, genausowenig wie
es das menschliche Antlitz gab. Jeder Mensch roch anders, niemand wusste das
besser als Grenouille, der Tausende und Abertausende von Individualgeruchen
kannte und Menschen schon von Geburt an witternd unterschied. Und doch - es
gab ein parfumistisches Grundthema des Menschendufts, ein ziemlich simples
ubrigens: ein schweißig-fettes, kusigsuuerliches, ein im ganzen
reichlich ekelhaftes Grundthema, das allen Menschen gleichermaßen
anhaftete und uber welchem erst in feinerer Vereinzelung die Wulkchen einer
individuellen Aura schwebten.
Diese Aura aber, die huchst komplizierte, unverwechselbare Chiffre des
persunlichen Geruchs, war fur die meisten Menschen ohnehin nicht
wahrnehmbar. Die meisten Menschen wussten nicht, dass sie sie uberhaupt
besaßen, und taten uberdies alles, um sie unter Kleidern oder unter
modischen Kunstgeruchen zu verstecken. Nur jener Grundduft, jene primitive
Menschendunstelei, war ihnen wohlvertraut, in ihr nur lebten sie und fuhlten
sich geborgen, und wer nur den eklen allgemeinen Brodem von sich gab, wurde
von ihnen schon als ihresgleichen angesehen.
Es war ein seltsames Parfum, das Grenouille an diesem Tag kreierte. Ein
seltsameres hatte es bis dahin auf der Welt noch nicht gegeben. Es roch
nicht wie ein Duft, sondern wie ein Mensch, der duftet. Wenn man dieses
Parfum in einem dunklen Raum gerochen hutte, so hutte man geglaubt, es stehe
da ein zweiter Mensch. Und wenn ein Mensch, der selber wie ein Mensch roch,
es verwendet hutte, so wure dieser uns geruchlich vorgekommen wie zwei
Menschen oder, schlimmer noch, wie ein monstruses Doppelwesen, wie eine
Gestalt, die man nicht mehr eindeutig fixieren kann, weil sie sich
verschwimmend unscharf darstellt wie ein Bild vom Grunde eines Sees, auf dem
die Wellen zittern.
Um diesen Menschenduft zu imitieren - recht ungenugend, wie er selber
wusste, aber doch geschickt genug, um andere zu tuuschen -, suchte sich
Grenouille die ausgefallensten Ingredienzen in Runels Werkstatt zusammen. Da
war ein Huufchen Katzendreck hinter der Schwelle der Tur, die zum Hof
fuhrte, noch ziemlich frisch. Davon nahm er ein halbes Luffelchen und gab es
zusammen mit einigen Tropfen Essig und zerstoßenem Salz in die
Mischflasche. Unter dem Werktisch fand er ein daumennagelgroßes
Stuckchen Kuse, das offenbar von einer Mahlzeit Runels stammte. Es war schon
ziemlich alt, begann, sich zu zersetzen und strumte einen beißend
scharfen Duft aus. Vom Deckel der Sardinentonne, die im hinteren Teil des
Ladens stand, kratzte er ein fischig-ranzig-riechendes Etwas ab, vermischte
es mit faulem Ei und Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem Hurn und
angesengter Schweineschwarte, fein gebruselt. Dazu gab er ein relativ hohes
Quantum Zibet, mischte diese entsetzlichen Zutaten mit Alkohol, ließ
digerieren und filtrierte ab in eine zweite Flasche. Die Bruhe roch
verheerend. Sie stank kloakenhaft, verwesend, und wenn man ihre Ausdunstung
mit einem Fucherschlag von reiner Luft vermischte, so war's, als stunde man
an einem heißen Sommertag in der Rue aux Fers in Paris, Ecke Rue de la
Lingerie, wo sich die Dufte von den Hallen, vom Cimetiere des Innocents und
von den uberfullten Huusern trafen.
uber diese grauenvolle Basis, die an und fur sich eher kadaverhaft als
menschenuhnlich roch, legte Grenouille nun eine Schicht von ulig-frischen
Duften: Pfefferminz, Lavendel, Terpentin, Limone, Eukalyptus, die er durch
ein Bouquet von feinen Blutenulen wie Geranium, Rose, Orangenblute und
Jasmin zugleich zugelte und angenehm kaschierte. Nach weiterer Verdunnung
mit Alkohol und etwas Essig war von dem Fundament, auf dem die ganze
Mischung ruhte, nichts Ekelhaftes mehr zu riechen. Der latente Gestank hatte
sich durch die frischen Ingredienzen bis ins Unmerkliche verloren, das
Ekelhafte war vom Duft der Blumen geschunt, ja beinahe interessant geworden,
und, sonderbar, von Verwesung war nichts mehr zu riechen, nicht das
geringste mehr. Es schien im Gegenteil ein heftiger beschwingter Duft von
Leben von dem Parfum auszugehen.
Grenouille fullte es auf zwei Flakons, die er verstupselte und zu sich
steckte. Dann wusch er die Flaschen, Murser, Trichter und Luffel sorgfultig
mit Wasser, rieb sie mit Bittermandelul ab, um alle geruchlichen Spuren zu
verwischen, und nahm eine zweite Mischflasche. In ihr komponierte er rasch
ein anderes Parfum, eine Art Kopie des ersten, das ebenfalls aus frischen
und aus blumigen Elementen bestand, bei dem jedoch die Basis nichts mehr von
dem Hexensud enthielt, sondern ganz konventionell etwas Moschus, Amber, ein
klein wenig Zibet und ul von Zedernholz. Fur sich genommen roch es vullig
anders als das erste flacher, unbescholtener, unvirulenter - denn es fehlte
ihm die Komponente des imitierten Menschendufts. Doch wenn ein gewuhnlicher
Mensch es applizierte und es sich mit seinem eigenen Geruch vermuhlte, so
wurde es von dem, das Grenouille ausschließlich fur sich geschaffen
hatte, nicht mehr zu unterscheiden sein.
Nachdem er auch das zweite Parfum auf Flakons gefullt hatte, zog er
sich nackt aus und besprengte seine Kleider mit jenem ersten. Dann betupfte
er sich selbst damit unter den Achseln, zwischen den Zehen, am Geschlecht,
auf der Brust, an Hals, Ohren und Haaren, zog sich wieder an und
verließ die Werkstatt.
32
Als er die Straße betrat, bekam er plutzlich Angst, denn er
wusste, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen menschlichen Geruch
verbreitete. Er selbst aber fand, dass er stinke, ganz widerwurtig stinke.
Und er konnte sich nicht vorstellen, dass andere Menschen seinen Duft nicht
ebenfalls als stinkend empfunden, und wagte es nicht, direkt in die Schenke
zu gehen, wo Runel und der Haushofmeister des Marquis auf ihn warteten. Es
schien ihm weniger riskant, die neue Aura erst in anonymer Umgebung zu
erproben.
Durch die engsten und dunkelsten Gassen schlich er zum Fluss hinunter,
wo die Gerber und die Stoffurber ihre Ateliers besaßen und ihr
stinkendes Geschuft betrieben. Wenn ihm jemand begegnete, oder wenn er an
einem Hauseingang voruberkam, wo Kinder spielten oder alte Frauen
saßen, zwang er sich, langsamer zu gehen und seinen Duft in einer
großen geschlossenen Wolke um sich her zu tragen.
Er war von Jugend an gewohnt, dass Menschen, die an ihm vorubergingen,
keinerlei Notiz von ihm nahmen, nicht aus Verachtung - wie er einmal
geglaubt hatte -, sondern weil sie nichts von seiner Existenz bemerkten. Es
war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in
der Atmosphure schlug, kein Schatten, sozusagen, den er uber das Gesicht der
andern Menschen hutte werfen kunnen. Nur wenn er direkt mit jemandem
zusammengestoßen war, im Gedrunge oder urplutzlich an einer
Straßenecke, dann hatte es einen kurzen Augenblick der Wahrnehmung
gegeben; und mit Entsetzen meistens prallte der Getroffene zuruck, starrte
ihn, Grenouille, fur ein paar Sekunden an, als sehe er ein Wesen, das es
eigentlich nicht geben durfte, ein Wesen, das, wiewohl unleugbar da, auf
irgendeine Weise nicht prusent war - und suchte dann das Weite und hatte
seiner augenblicks wieder vergessen...
Jetzt aber, in den Gassen Montpelliers, spurte und sah Grenouille
deutlich - und jedesmal, wenn er es wieder sah, durchrieselte ihn ein
heftiges Gefuhl von Stolz -, dass er eine Wirkung auf die Menschen ausubte.
Als er an einer Frau voruberging, die uber einen Brunnenrand gebeugt stand,
bemerkte er, wie sie fur einen Augenblick den Kopf hob, um zu sehen, wer da
sei, und sich dann, offenbar beruhigt, wieder ihrem Eimer zuwandte. Ein
Mann, der mit dem Rucken zu ihm stand, drehte sich um und schaute ihm eine
ganze Weile lang neugierig nach. Kinder, denen er begegnete, wichen aus -
nicht ungstlich, sondern um ihm Platz zu machen; und selbst wenn sie
seitlich aus den Hauseingungen gelaufen kamen und unvermittelt auf ihn
stießen, erschraken sie nicht, sondern schlupften wie
selbstverstundlich an ihm vorbei, als hutten sie eine Vorahnung von seiner
sich nuhernden Person gehabt.
Durch mehrere solche Begegnungen lernte er, die Kraft und Wirkungsart
seiner neuen Aura pruziser einzuschutzen, und wurde selbstsicherer und
kecker. Er ging rascher auf die Menschen zu, strich dichter an ihnen vorbei,
spreizte gar einen Arm ein wenig weiter ab und streifte wie zufullig den Arm
eines Passanten. Einmal rempelte er, scheinbar aus Versehen, einen Mann an,
den er uberholen wollte. Er blieb stehen, entschuldigte sich, und der Mann,
der noch gestern von Grenouilles plutzlicher Erscheinung wie vom Donner
geruhrt gewesen wure, tat, als sei nichts geschehen, nahm die Entschuldigung
an, luchelte sogar kurz und klopfte Grenouille auf die Schulter.
Er verließ die Gassen und trat auf den Platz vor dem Dom
Saint-Pierre. Die Glocken luuteten. Zu beiden Seiten des Portals drungten
sich Menschen. Eine Trauung war eben zu Ende. Man wollte die Braut sehen.
Grenouille lief hin und mischte sich unter die Menge. Er drungte, bohrte
sich in sie hinein, dorthin wollte er, wo die Menschen am dichtesten
standen, hautnah sollten sie um ihn sein, direkt unter die Nasen wollte er
ihnen seinen eigenen Duft reiben. Und er spreizte die Arme mitten in der
drangvollen Enge und spreizte die Beine und riss sich den Kragen auf, damit
der Duft ungehindert von seinem Kurper abstrumen kunne... und seine Freude
war grenzenlos, als er merkte, dass die andern nichts merkten, rein gar
nichts, dass all diese Munner und Frauen und Kinder, die ringsum an ihn
gepresst standen, sich so leicht betrugen ließen und seinen aus
Katzenscheiße, Kuse und Essig zusammengepantschten Gestank als den
Geruch von ihresgleichen inhalierten und ihn, Grenouille, die Kuckucksbrut
in ihrer Mitte, als einen Menschen unter Menschen akzeptierten.
An seinen Knien spurte er ein Kind, ein kleines Mudchen, das zwischen
den Erwachsenen verkeilt stand. Er hob es hoch, in heuchlerischer Fursorge,
und nahm es auf den Arm, damit es besser sehen kunne. Die Mutter duldete es
nicht nur, sie dankte es ihm, und die Kleine jauchzte vor Vergnugen.
So stand Grenouille wohl eine Viertelstunde im Schoß der Menge,
ein fremdes Kind gegen die scheinheilige Brust gedruckt. Und wuhrend die
Hochzeitsgesellschaft vorbeizog, begleitet vom druhnenden Glockengeluut und
vom Jubel der Menschen, uber die ein Regen von Munzen herabprasselte, brach
in Grenouille ein anderer Jubel los, ein schwarzer Jubel, ein buses
Triumphgefuhl, das ihn zittern machte und berauschte wie ein Anfall von
Geilheit, und er hatte Muhe, es nicht wie Gift und Galle uber all diese
Menschen herspritzen zu lassen und ihnen jubelnd ins Gesicht zu schreien:
dass er keine Angst vor ihnen habe; ja kaum noch sie hasse; sondern dass er
sie mit ganzer Inbrunst verachte, weil sie stinkend dumm waren; weil sie
sich von ihm belugen und betrugen ließen; weil sie nichts waren, und
er war alles! Und wie zum Hohn presste er das Kind enger an sich, machte
sich Luft und schrie mit den undern im Chor: "Hoch die Braut! Es lebe die
Braut! Es lebe das herrliche Paar!"
Als die Hochzeitsgesellschaft sich entfernt hatte und die Menge sich
aufzulusen begann, gab er das Kind seiner Mutter zuruck und ging in die
Kirche, um sich von seiner Erregung zu erholen und auszuruhen. Im Innern des
Domes stand die Luft voll Weihrauch, der in kalten Schwaden aus zwei
Ruucherpfannen zu beiden Seiten des Altars hervorquoll und sich wie eine
erstickende Decke uber die zarteren Geruche der Menschen legte, die eben
noch hier gesessen hatten. Grenouille hockte sich auf eine Bank unter dem
Chor.
Mit einem Mal kam eine große Zufriedenheit uber ihn. Keine
trunkene, wie er sie damals im Schuße des Berges bei seinen einsamen
Orgien empfunden hatte, sondern eine sehr kalte und nuchterne Zufriedenheit,
wie sie das Bewusstsein der eigenen Macht gebiert. Er wusste jetzt, wozu er
fuhig war. Mit geringsten Hilfsmitteln hatte er, dank seinem eigenen Genie,
den Duft des Menschen nachgeschaffen und ihn auf Anhieb gleich so gut
getroffen, dass selbst ein Kind sich von ihm hatte tuuschen lassen. Er
wusste jetzt, dass er noch mehr vermochte. Er wusste, dass er diesen Duft
verbessern konnte. Er wurde einen Duft kreieren kunnen, der nicht nur
menschlich, sondern ubermenschlich war, einen Engelsduft, so unbeschreiblich
gut und lebenskruftig, dass, wer ihn roch, bezaubert war und ihn,
Grenouille, den Truger dieses Dufts, von ganzem Herzen lieben musste.
Ja, lieben sollten sie ihn, wenn sie im Banne seines Duftes standen,
nicht nur ihn als ihresgleichen akzeptieren, ihn lieben bis zum Wahnsinn,
bis zur Selbstaufgabe, zittern vor Entzucken sollten sie, schreien, weinen
vor Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie sollten sie sinken wie unter
Gottes kaltem Weihrauch, wenn sie nur ihn, Grenouille, zu riechen bekamen!
Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen
Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und uber wirkliche
Menschen. Und er wusste, dass dies in seiner Macht stand. Denn die Menschen
konnten die Augen zumachen vor der Gruße, vor dem Schrecklichen, vor
der Schunheit und die Ohren verschließen vor Melodien oder beturenden
Worten. Aber sie konnten sich nicht dem Duft entziehen. Denn der Duft war
ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in die Menschen ein, sie konnten sich
seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging
der Duft, direkt ans Herz, und unterschied dort kategorisch uber Zuneigung
und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass. Wer die Geruche beherrschte,
der beherrschte die Herzen der Menschen.
Ganz gelust saß Grenouille auf der Bank im Dom von Saint-Pierre
und luchelte. Er war nicht euphorischer Stimmung, als er den Plan fasste,
Menschen zu beherrschen. Es war kein wahnsinniges Flackern in seinen Augen,
und keine verruckte Grimasse uberzog sein Gesicht. Er war nicht von Sinnen.
So klaren und heiteren Geistes war er, dass er sich fragte, warum uberhaupt
er es wollte. Und er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch
buse sei. Und er luchelte dabei und war sehr zufrieden. Er sah ganz
unschuldig aus, wie irgendein Mensch, der glucklich ist.
Eine Weile lang blieb er so sitzen, in anduchtiger Ruhe, und atmete die
weihrauchsatte Luft in tiefen Zugen ein. Und wieder ging ein heiteres
Schmunzeln uber sein Gesicht: Wie miserabel dieser Gott doch roch! Wie
lucherlich schlecht doch der Duft gemacht war, den dieser Gott von sich
verstrumen ließ. Nicht einmal echter Weihrauchduft war es, was aus den
Pfannen qualmte. Schlechtes Surrogat war es, verfulscht mit Lindenholz und
Zimtstaub und Salpeter. Gott stank. Gott war ein kleiner armer Stinker. Er
war betrogen, dieser Gott, oder er war selbst ein Betruger, nicht anders als
Grenouille - nur ein um so viel schlechterer!
33
Der Marquis de la Taillade-Espinasse war entzuckt von dem neuen Parfum.
Es sei, so sagte er, selbst fur ihn als Entdecker des letalen Fluidums,
verbluffend zu sehen, welch eklatanten Einfluss ein so nebensuchliches und
fluchtiges Ding wie ein Parfum, je nachdem, ob es aus erdverbundnen oder
erdentruckten Provenienzen stamme, auf den allgemeinen Zustand eines
Individuums nehme. Grenouille, der noch vor wenigen Stunden blass und einer
Ohnmacht nahe hier gelegen, sehe so frisch und bluhend aus wie nur irgendein
gesunder Mensch seines Alters, ja, man kunne sagen, dass er - mit allen
Einschrunkungen, die bei einem Manne seines Standes und seiner geringen
Bildung angebracht seien - fast so etwas wie Persunlichkeit gewonnen habe.
Auf jeden Fall werde er, Taillade-Espinasse, im Kapitel uber vitale Diutetik
seiner demnuchst erscheinenden Abhandlung zur fluidalen Letaltheorie von dem
Vorfall Mitteilung machen. Zunuchst wolle er sich nun aber selbst mit dem
neuen Duft parfumieren.
Grenouille hundigte ihm die beiden Flakons mit dem konventionellen
Blutenduft aus, und der Marquis besprengte sich damit. Er zeigte sich
hochbefriedigt von der Wirkung. Ein wenig sei ihm, so gestand er, nachdem er
jahrelang von dem entsetzlichen Veilchenduft wie von Blei belastet gewesen,
als wuchsen ihm blutene Flugel; und wenn er nicht irre, so lasse der
grußliche Schmerz seines Knies ebenso nach wie das Sausen der Ohren;
alles in allem fuhle er sich beschwingt, ionisiert und um etliche Jahre
verjungt. Er ging auf Grenouille zu, umarmte ihn und nannte ihn "mein
fluidaler Bruder", hinzufugend, es handle sich dabei keineswegs um eine
gesellschaftliche, sondern um eine rein spirituelle Anrede in conspectu
universalitatis fluidi letalis, vor welchem - und vor welchem allein! - alle
Menschen gleich seien; auch plane er - und dies sagte er, indem er sich von
Grenouille luste, und zwar sehr freundschaftlich, nicht im geringsten
angewidert, fast wie von seinesgleichen luste - , in Bulde eine
internationale suprastundische Loge zu grunden, deren Ziel es sei, das
fluidum letale vollstundig zu uberwinden, um es in kurzester Zeit durch
reines fluidum vitale zu ersetzen, und als deren ersten Proselyten
Grenouille zu gewinnen er schon jetzt verspreche. Dann ließ er sich
die Rezeptur fur das Blutenparfum auf einen Zettel schreiben, steckte diesen
zu sich und schenkte Grenouille funfzig Louisdor.
Punktlich eine Woche nach seinem ersten Vortrag prusentierte der
Marquis de la Taillade-Espinasse seinen Schutzling abermals in der Aula der
Universitut. Der Andrang war ungeheuer. Ganz Montpellier war gekommen, nicht
allein das wissenschaftliche, auch und gerade das gesellschaftliche
Montpellier, darunter viele Damen, die den sagenhaften Huhlenmenschen sehen
wollten. Und obwohl die Gegner Taillades, hauptsuchlich Vertreter des
>Freundeskreises der botanischen Universitutsgurten< und Mitglieder
des >Vereins zur Furderung der Agrikultur<, all ihre Anhunger
mobilisiert hatten, wurde die Veranstaltung ein fulminanter Erfolg. Um dem
Publikum Grenouilles Zustand vor Wochenfrist ins Geduchtnis zu rufen,
ließ Taillade-Espinasse zunuchst Zeichnungen kursieren, die den
Huhlenmenschen in seiner ganzen Hußlichkeit und Verkommenheit zeigten.
ann ließ er den neuen Grenouille hereinfuhren, im schunen samtblauen
Rock und seidenen Hemd, geschminkt, gepudert und frisiert; und schon die
Art, wie er ging, aufrecht numlich und mit zierlichen Schritten und
elegantem Huftschwung, wie er ganz ohne fremde Hilfe das Podest erklomm,
sich tief verbeugte, bald hier-, bald dorthin luchelnd nickte, ließ
alle Zweifler und Kritiker verstummen. Selbst die Freunde der botanischen
Universitutsgurten schwiegen betreten. Zu eklatant war die Verunderung, zu
uberwultigend das Wunder, das hier offenbar geschehen war: Wo vor
Wochenfrist ein geschundenes, verrohtes Tier gekauert hatte, da stand jetzt
wahrhaftig ein zivilisierter, wohlgestalter Mensch. Es breitete sich eine
fast anduchtige Stimmung im Saale aus, und als Taillade-Espinasse zum
Vortrag anhob, herrschte vollkommene Stille. Er entwickelte abermals seine
sattsam bekannte Theorie des letalen Erdfluidums, erluuterte dann, mit
welchen mechanischen und diutetischen Mitteln er es aus dem Kurper des
Demonstranten vertrieben und durch Vitalfluidum ersetzt habe, und forderte
schließlich alle Anwesenden auf, Freunde wie Gegner, angesichts solch
uberwultigender Evidenz den Widerstand gegen die neue Lehre aufzugeben und
gemeinsam mit ihm, Taillade-Espinasse, das buse Fluidum zu bekumpfen und
sich dem guten vitalen Fluidum zu uffnen. Hierbei breitete er die Arme aus
und schlug die Augen gen Himmel, und viele der gelehrten Munner taten es ihm
gleich, und die Frauen weinten.
Grenouille stand auf dem Podest und hurte nicht zu. Er beobachtete mit
grußter Genugtuung die Wirkung eines ganz anderen Fluidums, eines viel
realeren: seines eignen. Er hatte sich, den ruumlichen Erfordernissen der
Aula entsprechend, sehr stark parfumiert, und die Aura seines Duftes
strahlte, kaum dass er das Podium bestiegen hatte, muchtig von ihm ab. Er
sah sie - in der Tat sah er sie sogar mit Augen! - die zuvorderst sitzenden
Zuschauer erfassen, sich weiter nach hinten fortpflanzen und endlich die
letzten Reihen und die Galerie erreichen. Und wen sie erfasste - das Herz im
Leibe sprang Grenouille vor Freude -, den verunderte sie sichtbar. Im Banne
seines Duftes, aber ohne sich dessen bewusst zu sein, wechselten die
Menschen ihren Gesichtsausdruck, ihr Gehabe, ihr Gefuhl. Wer ihn zunuchst
nur mit bassem Erstaunen beglotzt hatte, der sah ihn nun mit milderem Auge
an; wer zuruckgelehnt in seinem Stuhl verharrt hatte, mit kritisch
gefurchter Stirn und bedeutend herabgezogenen Mundwinkeln, der lehnte sich
jetzt lockerer nach vorn und bekam ein kindlich gelustes Gesicht; und selbst
in den Gesichtern der ungstlichen, der Verschreckten, der Allersensibelsten,
die seinen ehemaligen Anblick nur mit Entsetzen und seinen jetzigen immerhin
noch mit gehuriger Skepsis ertragen konnten, zeigten sich Anfluge von
Freundlichkeit, ja Sympathie, als sein Duft sie erreichte. Am Ende des
Vertrags erhob sich die ganze Versammlung und brach in frenetischen Jubel
aus. "Es lebe das vitale Fluidum! Es lebe Taillade-Espinasse! Hoch die
fluidale Theorie! Nieder mit der orthodoxen Medizin!" - so schrie das
gelehrte Volk von Montpellier, der bedeutendsten Universitutsstadt des
franzusischen Sudens, und der Marquis de la Taillade-Espinasse hatte die
grußte Stunde seines Lebens.
Grenouille aber, der nun von seinem Podest herunterstieg und sich unter
die Menge mischte, wusste, dass die Ovationen eigentlich ihm galten, ihm
Jean-Baptiste Grenouille allein, auch wenn keiner der Jubler im Saal davon
etwas ahnte.
34
Er blieb noch einige Wochen in Montpellier. Er hatte eine ziemliche
Beruhmtheit erlangt und wurde in die Salons eingeladen, wo man ihn nach
seinem Huhlenleben und nach seiner Heilung durch den Marquis befragte. Immer
wieder musste er die Geschichte von den Ruubern erzuhlen, die ihn
verschleppt hatten, und von dem Korb, der herabgelassen wurde, und von der
Leiter. Und jedesmal schmuckte er sie pruchtiger aus und erfand neue Details
hinzu. So bekam er wieder eine gewisse ubung im Sprechen - freilich eine
sehr beschrunkte, denn mit der Sprache hatte er es zeitlebens nicht - und,
was ihm wichtiger war, einen routinierteren Umgang mit der Luge.
Im Grunde, so stellte er fest, konnte er den Leuten erzuhlen, was er
wollte. Wenn sie einmal Vertrauen gefasst hatten - und sie fassten Vertrauen
zu ihm mit dem ersten Atemzug, den sie von seinem kunstlichen Geruch
inhalierten -, dann glaubten sie alles. Er bekam des weiteren eine gewisse
Sicherheit im gesellschaftlichen Umgang, wie er sie niemals besessen hatte.
Sie druckte sich sogar kurperlich aus. Es war, als sei er gewachsen. Sein
Buckel schien zu schwinden. Er ging beinahe vollkommen aufrecht. Und wenn er
angesprochen wurde, so zuckte er nicht mehr zusammen, sondern blieb aufrecht
stehen und hielt den auf ihn gerichteten Blicken stand. Freilich, es wurde
in dieser Zeit kein Mann von Welt aus ihm, kein Salonluwe oder souveruner
Gesellschafter. Aber es fiel doch zusehends das Verdruckte, Linkische von
ihm ab und machte einer Haltung Platz, die als naturliche Bescheidenheit
oder allenfalls als eine leichte angeborene Schuchternheit gedeutet wurde
und die auf manchen Herrn und manche Dame einen anruhrenden Eindruck machte
- man hatte damals in mondunen Kreisen ein Faible furs Naturliche und fur
eine Art ungehobelten Charmes.
Anfang Murz packte er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags
in aller Fruh, kaum dass die Tore geuffnet waren, bekleidet mit einem
unscheinbaren braunen Rock, den er am Vortag auf dem Altkleidermarkt
erworben hatte, und einem schubigen Hut, der sein Gesicht halb verdeckte.
Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem
Tag mit Vorbedacht auf sein Parfum verzichtet. Und als der Marquis gegen
Mittag Nachforschungen anstellen ließ, schworen die Wachen Stein und
Bein, sie hutten zwar alle muglichen Leute die Stadt verlassen gesehen,
nicht aber jenen bekannten Huhlenmenschen, der ihnen ganz bestimmt
aufgefallen wure. Der Marquis ließ daraufhin verbreiten, Grenouille
habe Montpellier mit seinem Einverstundnis verlassen, um in
Familienangelegenheiten nach Paris zu reisen. Insgeheim urgerte er sich
allerdings furchterlich, denn er hatte vorgehabt, mit Grenouille eine
Tournee durch das ganze Kunigreich zu unternehmen, um Anhunger fur seine
Fluidaltheorie zu werben.
Nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete
sich auch ohne Tournee, fast ohne sein Zutun. Es erschienen lange Artikel
uber das fluidum letale Taillade im >Journal des Suavans< und sogar im
>Courier de l'Europe<, und von weit her kamen letalverseuchte
Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764 grundete er die
erste >Loge des vitalen Fluidums<, die in Montpellier 120 Mitglieder
zuhlte und Zweigstellen in Marseille und Lyon einrichtete. Dann beschloss
er, den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt
fur seine Lehre zu erobern, wollte vorher aber noch zur propagandistischen
Unterstutzung seines Feldzugs eine fluidale Großtat vollbringen,
welche die Heilung des Huhlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den
Schatten stellte, und ließ sich Anfang Dezember von einer Gruppe
unerschrockener Adepten zu einer Expedition auf den Pic du Canigou
begleiten, der auf demselben Meridian wie Paris lag und fur den huchsten
Berg der Pyrenuen galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Mann
wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei
Wochen lang der schiersten, frischesten Vitalluft aussetzen, um, wie er
verkundigte, punktlich am Heiligen Abend als kregler Jungling von zwanzig
Jahren wieder herabzusteigen.
Die Adepten gaben schon kurz hinter Vernet, der letzten menschlichen
Siedlung am Fuße des furchterlichen Gebirges, auf. Den Marquis jedoch
focht nichts an. In der Eiseskulte seine Kleider von sich werfend und laute
Jauchzer ausstoßend, begann er den Aufstieg allein. Das letzte, was
von ihm gesehen wurde, war seine Silhouette, die mit ekstatisch zum Himmel
erhobenen Hunden und singend im Schneesturm verschwand.
Am Heiligen Abend warteten die Junger vergebens auf die Wiederkunft des
Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis noch als Jungling.
Auch im Fruhsommer des nuchsten Jahres, als sich die Wagemutigsten auf die
Suche machten und den noch immer verschneiten Gipfel des Pic du Canigou
erklommen, fand sich nichts mehr von ihm, kein Kleidungsstuck, kein
Kurperteil, kein Knuchelchen.
Seiner Lehre tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ging
bald die Sage, er habe sich auf der Spitze des Berges mit dem ewigen
Vitalfluidum vermuhlt, sich in es und es in sich aufgelust und schwebe
fortan unsichtbar, aber in ewiger Jugend uber den Gipfeln der Pyrenuen, und
wer hinaufsteige zu ihm, der werde seiner teilhaftig und bliebe ein Jahr
lang von Krankheit und vom Prozess des Alterns verschont. Bis weit ins 19.
Jahrhundert hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an manchem medizinischen
Lehrstuhl verfochten und in vielen okkulten Vereinen therapeutisch
angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyrenuen, namentlich
in Perpignan und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die sich einmal im
Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen.
Dort zunden sie ein großes Feuer an, vorgeblich aus Anlass der
Sonnenwende und zu Ehren des heiligen Johannes - in Wirklichkeit aber, um
ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen
und um das ewige Leben zu erlangen.
DRITTER TEIL
35
Wuhrend Grenouille fur die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich
sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben
Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die Studte nicht
mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte
Selbstvertrauen, und er hatte es eilig.
Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte
er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt sudwestlich von Aigues-Mortes, wo
er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille
verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff,
das ihn weiter die Kuste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage sputer war er
in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu
Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinwurts nach Norden fuhrte, die
Hugel hinauf.
Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein
mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher
Schussel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden Hugeln und
schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten
Feldern, Gurten und Olivenhainen uberzogen war. Es lag ein vullig eignes,
sonderbar intimes Klima uber dieser Schussel. Obwohl das Meer so nah war,
dass man es von den Hugelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts
Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille
Abgeschiedenheit, ganz so, als wure man viele Tagesreisen von der Kuste
entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf
denen noch der Schnee lag und noch lange liegen wurde, war hier nichts
Rauhes oder Karges zu spuren und kein kalter Wind. Der Fruhling war weiter
vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie
eine gluserne Glocke. Aprikosen- und Mandelbuume bluhten, und die warme Luft
durchzog der Duft von Narzissen.
Am anderen Ende der großen Schussel, vielleicht zwei Meilen
entfernt, lag, oder besser gesagt, klebte an den ansteigenden Bergen eine
Stadt. Sie machte aus der Entfernung gesehen keinen besonders pompusen
Eindruck. Da war kein muchtiger Dom, der die Huuser uberragte, bloß
ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend
pruchtiges Gebuude. Die Mauern schienen alles andere als trutzig, da und
dort quollen die Huuser uber ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach unten
zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen.
Es war, als sei dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden,
als sei er es mude, kunftigen Eindringlingen noch ernsthaften Widerstand
entgegenzusetzen - aber nicht aus Schwuche, sondern aus Lussigkeit oder
sogar aus einem Gefuhl von Sturke. Er sah aus, als habe er es nicht nutig zu
prunken. Er beherrschte die große duftende Schussel zu seinen
Fußen, und das schien ihm zu genugen.
Dieser zugleich unansehnliche und selbstbewusste Ort war die Stadt
Grasse, seit einigen Jahrzehnten unumstrittene Produktions- und
Handelsmetropole fur Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und ule. Giuseppe
Baldini hatte ihren Namen immer mit schwurmerischer Verzuckung
ausgesprochen. Ein Rom der Dufte sei die Stadt, das gelobte Land der
Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient habe, der trage nicht
zu Recht den Namen Parfumeur.
Grenouille sah mit sehr nuchternem Blick auf die Stadt Grasse. Er
suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im
Angesicht des Nestes, das da druben an den Hungen klebte. Er war gekommen,
weil er wusste, dass es dort einige Techniken der Duftgewinnung besser zu
lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte
sie fur seine Zwecke. Er zog den Flakon mit seinem Parfum aus der Tasche,
betupfte sich sparsam und machte sich auf den Weg. Anderthalb Stunden
sputer, gegen Mittag, war er in Grasse.
Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux
Aires. Der Platz war der Lunge nach von einem Bach durchschnitten, an dem
die Gerber ihre Huute wuschen, um sie anschließend zum Trocknen
auszubreiten. Der Geruch war so stechend, dass manchem der Guste der
Geschmack am Essen verging. Ihm, Grenouille, nicht. Ihm war der Geruch
vertraut, ihm gab er ein Gefuhl von Sicherheit. In allen Studten suchte er
immer zuerst die Viertel der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er, aus
der Sphure des Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des
Orts erkundend, kein Fremdling mehr.
Den ganzen Nachmittag uber durchstreifte er die Stadt. Sie war
unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des vielen Wassers,
das aus Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten Buchen
und Rinnsalen stadtabwurts gurgelte und die Gassen unterminierte oder mit
Schlamm uberschwemmte. Die Huuser standen in manchen Vierteln so dicht, dass
fur die Durchlusse und Treppchen nur noch eine Elle weit Platz blieb und
sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und
selbst auf den Plutzen und den wenigen breiteren Straßen konnten die
Fuhrwerke einander kaum ausweichen.
Dennoch, bei allem Schmutz, bei aller Schmuddligkeit und Enge, barst
die Stadt vor gewerblicher Betriebsamkeit. Nicht weniger als sieben
Seifenkochereien machte Grenouille bei seinem Rundgang aus, ein Dutzend
Parfumerie- und Handschuhmachermeister, unzuhlige kleinere Destillen,
Pomadeateliers und Spezereien und schließlich einige sieben Hundler,
die Dufte en gros vertrieben.
Dies waren nun allerdings Kaufleute, die uber wahre
Duftstoffgroßkontore verfugten. Anzusehen war es ihren Huusern oftmals
kaum. Die zur Straße hin gelegenen Fassaden sahen burgerlich
bescheiden aus. Doch was dahinter lagerte, auf Speichern und in riesenhaften
Kellern, an Fussern von ul, an Stapeln von feinster Lavendelseife, an
Ballons von Blutenwussern, Weinen, Alkoholen, an Ballen von Duftleder, an
Sucken und Truhen und Kisten, vollgestopft mit Gewurzen... - Grenouille roch
es in allen Einzelheiten durch die dicksten Mauern -, das waren Reichtumer,
wie sie Fursten nicht besaßen. Und wenn er schurfer hinroch, durch die
zur Straße gelegenen prosaischen Geschufts- und Lagerruume hindurch,
dann entdeckte er, dass auf der Ruckseite dieser kleinkarierten Burgerhuuser
sich Gebuulichkeiten der luxuriusesten Art befanden. Um kleine, aber
reizende Gurten, in denen Oleander und Palmen gediehen und zierliche von
Rabatten umfasste Springbrunnen gur gelten, dehnten sich, meist U-furmig
nach Suden gebaut, die eigentlichen Flugel der Anwesen aus:
sonnendurchflutete, seidentapetenbespannte Schlafgemucher in den
Obergeschossen, pruchtige mit exotischem Holz getufelte Salons zu ebener
Erde und Speisesule, bisweilen terrassenhaft ins Freie vorgebaut, in denen
tatsuchlich, wie Baldini erzuhlt hatte, mit goldenem Besteck von
porzellanenen Tellern gegessen wurde. Die Herren, die hinter diesen
bescheidenen Kulissen wohnten, rochen nach Gold und nach Macht, nach
schwerem gesichertem Reichtum, und sie rochen sturker danach als alles, was
Grenouille bisher auf seiner Reise durch die Provinz in dieser Hinsicht
gerochen hatte.
Vor einem der camouflierten Palazzi blieb er lungere Zeit stehen. Das
Haus befand sich am Anfang der Rue Droite, einer Hauptstraße, die die
Stadt in ihrer ganzen Lunge von Westen nach Osten durchzog. Es war nicht
außergewuhnlich anzusehen, wohl etwas breiter und behubiger an der
Front als die Nachbargebuude, aber durchaus nicht imposant. Vor der
Toreinfahrt stand ein Wagen mit Fussern, die uber eine Pritsche entladen
wurden. Ein zweites Fuhrwerk wartete. Ein Mann ging mit Papieren ins Kontor,
kam mit einem anderen Mann wieder heraus, beide verschwanden in der
Toreinfahrt. Grenouille stand an der gegenuberliegenden Straßenseite
und sah dem Treiben zu. Was da vor sich ging, interessierte ihn nicht.
Trotzdem blieb er stehen. Irgendetwas hielt ihn fest.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geruche, die ihm
von dem Gebuude gegenuber zuflogen. Da waren die Geruche der Fusser, Essig
und Wein, dann die hundertfultigen schweren Geruche des Lagers, dann die
Geruche des Reichtums, die aus den Mauern transpirierten wie feiner goldener
Schweiß, und schließlich die Geruche eines Gartens, der auf der
anderen Seite des Hauses liegen musste. Es war nicht leicht, diese zarteren
Dufte des Gartens aufzufangen, denn sie zogen nur in dunnen Streifen uber
den Giebel des Hauses hinweg herab auf die Straße. Grenouille machte
Magnolien aus, Hyazinthen, Seidelbast und Rhododendron... - aber da schien
noch etwas anderes zu sein, etwas murderisch Gutes, was in diesem Garten
duftete, ein Geruch so exquisit, wie er ihn in seinem Leben noch nicht -
oder doch nur ein einziges Mal - in die Nase bekommen hatte... Er musste
nuher an diesen Duft heran.
Er uberlegte, ob er einfach durch die Toreinfahrt in das Anwesen
eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so viele Leute mit dem Abladen
und dem Kontrollieren der Fusser beschuftigt, dass er sicher aufgefallen
wure. Er entschloss sich, die Straße zuruckzugehen, um eine Gasse oder
einen Durchlaß zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses
entlangfuhrte. Nach wenigen Metern hatte er das Stadttor am Beginn der Rue
Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und folgte dem
Verlauf der Stadtmauer bergabwurts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst
schwach, noch mit der Luft der Felder vermischt, dann immer sturker.
Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war. Der Garten grenzte
an die Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn er ein wenig zurucktrat,
konnte er uber die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenbuume sehen.
Wieder schloss er die Augen. Die Dufte des Gartens fielen uber ihn her,
deutlich und klar konturiert wie die farbigen Bunder eines Regenbogens. Und
der eine, der kostbare, der, auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille
wurde es heiß vor Wonne und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu
Kopfe wie einem ertappten Buben, und es wich zuruck in die Mitte des
Kurpers, und es stieg wieder und wich wieder, und er konnte nichts dagegen
tun. Zu plutzlich war diese Geruchsattacke gekommen. Fur einen Augenblick,
fur einen Atemzug lang, fur die Ewigkeit schien ihm, als sei die Zeit
verdoppelt oder radikal verschwunden, denn er wusste nicht mehr, war jetzt
jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort,
numlich Rue des Marais in Paris, September 1753: Der Duft, der aus dem
Garten heruberwehte, war der Duft des rothaarigen Mudchens, das er damals
ermordet hatte. Dass er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb
ihm Trunen der Gluckseligkeit in die Augen - und dass es nicht wahr sein
konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken.
Ihm schwindelte, und er taumelte ein wenig und musste sich gegen die
Mauer stutzen und langsam an ihr herab in die Hocke gleiten lassen. Sich
dort versammelnd und seinen Geist bezuhmend, begann er, den fatalen Duft in
kurzeren, weniger riskanten Atemzugen einzuziehen. Und er stellte fest, dass
der Duft hinter der Mauer dem Duft des rothaarigen Mudchens zwar extrem
uhnlich, aber nicht vollkommen gleich war. Freilich stammte er ebenfalls von
einem rothaarigen Mudchen, daran war kein Zweifel muglich. Grenouille sah
dieses Mudchen in seiner olfaktorischen Vorstellung wie auf einem Bilde vor
sich: Es saß nicht still, sondern es sprang hin und her, es erhitzte
sich und kuhlte sich wieder ab, offenbar spielte es ein Spiel, bei dem man
sich rasch bewegen und rasch wieder stillstehen musste - mit einer zweiten
Person ubrigens von vullig unsignifikantem Geruch. Es hatte
blendendweiße Haut. Es hatte grunliche Augen. Es hatte Sommersprossen
im Gesicht, am Hals und an den Brusten... das heisst - Grenouille stockte
fur einen Moment der Atem, dann schnupperte er heftiger und versuchte, die
Geruchserinnerung an das Mudchen aus der Rue des Marais zuruckzudrungen -...
das heißt, dieses Mudchen hatte noch gar keine Bruste im wahren Sinne
des Wortes! Es hatte kaum beginnende Ansutze von Brusten. Es hatte unendlich
zart und gering duftende, von Sommersprossen umsprenkelte, sich vielleicht
erst seit wenigen Tagen, vielleicht erst seit wenigen Stunden,... seit
diesem Augenblick eigentlich erst, sich zu dehnen beginnende Huubchen von
Brustchen. Mit einem Wort: Das Mudchen war noch ein Kind. Aber was fur ein
Kind!
Grenouille stand der Schweiß auf der Stirn. Er wusste, dass
Kinder nicht sonderlich rochen, ebensowenig wie die grun
aufschießenden Blumen vor ihrer Blute. Diese aber, diese fast noch
geschlossene Blute hinter der Mauer, die gerade eben erst, und noch von
niemandem als ihm, Grenouille, bemerkt, die ersten duftenden Spitzen
hervortrieb, duftete schon jetzt so haarstruubend himmlisch, dass, wenn sie
sich erst zu ganzer Pracht entfaltet haben wurde, sie ein Parfum verstrumen
wurde, wie es die Welt noch nicht gerochen hatte. Sie riecht schon jetzt
besser, dachte Grenouille, als damals das Mudchen aus der Rue des Marais -
nicht so kruftig, nicht so voluminus, aber feiner, facettenreicher und
zugleich naturlicher. In ein bis zwei Jahren aber wurde dieser Geruch
gereift sein und eine Wucht bekommen, der sich kein Mensch, weder Mann noch
Frau, wurde entziehen kunnen. Und die Leute wurden uberwultigt sein,
entwaffnet, hilflos vor dem Zauber dieses Mudchens, und sie wurden nicht
wissen, warum. Und weil sie dumm sind und ihre Nasen nur zum Schnaufen
gebrauchen kunnen, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben,
wurden sie sagen, es sei, weil dieses Mudchen Schunheit besitze und Grazie
und Anmut. Sie wurden in ihrer Beschrunktheit seine ebenmußigen Zuge
ruhmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, wurden sie
sagen, seien wie Smaragde und die Zuhne wie Perlen und ihre Glieder
elfenbeinglatt - und was der idiotischen Vergleiche noch mehr sind. Und sie
wurden sie zur Jasminkunigin kuren, und sie wurde gemalt werden von bluden
Portrutisten, ihr Bild wurde begafft werden, man wurde sagen, sie sei die
schunste Frau Frankreichs. Und Junglinge werden nuchtelang zu
Mandolinenklungen heulend unter ihrem Fenster sitzen... dicke reiche alte
Munner auf den Knien rutschend ihren Vater um ihre Hand anbetteln... und
Frauen jeden Alters werden bei ihrem Anblick seufzen und im Schlaf davon
truumen, nur einen Tag lang so verfuhrerisch auszusehen wie sie. Und sie
werden alle nicht wissen, dass es nicht ihr Aussehen ist, dem sie in
Wahrheit verfallen sind, nicht ihre angeblich makellose uußere
Schunheit, sondern einzig ihr unvergleichlicher, herrlicher Duft! Nur er
wurde es wissen, er Grenouille, er allein. Er wusste es ja jetzt schon.
Ach! Er wollte diesen Duft haben! Nicht auf so vergebliche, tuppische
Weise haben wie damals den Duft des Mudchens aus der Rue des Marais. Den
hatte er ja nur in sich hineingesoffen und damit zersturt. Nein, den Duft
des Mudchens hinter der Mauer wollte er sich wahrhaftig aneignen; ihn wie
eine Haut von ihr abziehen und zu seinem eigenen Duft machen. Wie das
geschehen sollte, wusste er noch nicht. Aber er hatte ja zwei Jahre Zeit, es
zu lernen. Es konnte im Grunde nicht schwieriger sein, als den Duft einer
seltenen Blume zu rauben.
Er stand auf. Anduchtig fast, als verließe er etwas Heiliges oder
eine Schluferin, entfernte er sich, geduckt, leise, dass niemand ihn sehe,
niemand ihn hure, niemand auf seinen kustlichen Fund aufmerksam werde. So
floh er an der Mauer entlang bis ans entgegengesetzte Ende der Stadt, wo
sich das Mudchenparfum endlich verlor und er an der Porte des Feneants
wieder Einlass fand. Im Schatten der Huuser blieb er stehen. Der stinkende
Dunst der Gassen gab ihm Sicherheit und half ihm, die Leidenschaft, die ihn
uberfallen hatte, zu bundigen. Nach einer Viertelstunde war er wieder
vollkommen ruhig geworden. Furs erste, dachte er, wurde er nicht mehr in die
Nuhe des Gartens hinter der Mauer gehen. Es war nicht nutig. Es erregte ihn
zu sehr. Die Blume dort gedieh ohne sein Zutun, und auf welche Weise sie
gedeihen wurde, wusste er ohnehin. Er durfte sich nicht zur Unzeit an ihrem
Duft berauschen. Er musste sich in Arbeit sturzen. Er musste seine
Kenntnisse erweitern und seine handwerklichen Fuhigkeiten vervollkommnen, um
fur die Zeit der Ernte gerustet zu sein. Er hatte noch zwei Jahre Zeit.
36
Nicht weit von der Porte des Feneants, in der Rue de la Louve,
entdeckte Grenouille ein kleines Parfumeuratelier und fragte nach Arbeit.
Es erwies sich, dass der Patron, Maitre Parfumeur Honore Arnulfi, im
vergangenen Winter verstorben war und dass seine Witwe, eine lebhafte
schwarzhaarige Frau von vielleicht dreißig Jahren, das Geschuft allein
mit Hilfe eines Gesellen fuhrte.
Madame Arnulfi, nachdem sie lange uber die schlechten Zeiten und uber
ihre prekure wirtschaftliche Lage geklagt hatte, erklurte, dass sie sich
zwar eigentlich keinen zweiten Gesellen leisten kunne, andrerseits aber
wegen der vielen anfallenden Arbeit dringend einen brauche; dass sie
außerdem einen zweiten Gesellen hier bei sich im Hause gar nicht wurde
beherbergen kunnen, andrerseits aber uber eine kleine Kabane auf ihrem
Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster - keine zehn Minuten von hier -
verfuge, in welcher ein anspruchsloser junger Mensch zur Not wurde nuchtigen
kunnen; dass sie ferner zwar als ehrliche Meisterin um ihre Verantwortung
fur das leibliche Wohl ihrer Gesellen wisse, sich aber andrerseits ganz
außerstande sehe, zwei warme Mahlzeiten am Tag zu gewuhren - mit einem
Wort: Madame Arnulfi war - was Grenouille freilich schon lungst gerochen
hatte - eine Frau von gesundem Wohlstand und gesundem Geschuftssinn. Und da
es ihm selber auf Geld nicht ankam und er sich mit zwei Franc Lohn pro Woche
und den ubrigen durftigen Bedingungen zufrieden erklurte, wurden sie schnell
einig. Der erste Geselle wurde gerufen, ein riesenhafter Mann namens Druot,
von dem Grenouille sofort erriet, dass er gewohnt war, Madames Bett zu
teilen, und ohne dessen Konsultation sie offenbar gewisse Entscheidungen
nicht traf. Er stellte sich vor Grenouille hin, der in Gegenwart dieses
Hunen geradezu lucherlich windig aussah, breitbeinig, eine Wolke von
Spermiengeruch verbreitend, musterte ihn, fasste ihn scharf ins Auge, als
wolle er auf diese Weise irgendwelche unlauteren Absichten oder einen
muglichen Nebenbuhler erkennen, grinste schließlich herablassend und
gab mit einem Nicken sein Einverstundnis.
Damit war alles geregelt. Grenouille erhielt einen Hundedruck, ein
kaltes Abendbrot, eine Decke und den Schlussel fur die Kabane, einen
fensterlosen Verschlag, der angenehm nach altem Schafmist und Heu roch und
in dem er sich, so gut es ging, einrichtete. Am nuchsten Tag trat er seine
Arbeit bei Madame Arnulfi an.
Es war die Zeit der Narzissen. Madame Arnulfi ließ die Blumen auf
eigenen kleinen Parzellen Landes ziehen, die sie unterhalb der Stadt in der
großen Schussel besaß, oder sie kaufte sie von den Bauern, mit
denen sie um jedes Lot erbittert feilschte. Die Bluten wurden schon in aller
Fruh geliefert, kurbeweise in das Atelier geschuttet, zehntausendfach, in
voluminusen, aber federleichten duftenden Haufen. Druot unterdessen
verflussigte in einem großen Kessel Schweine- und Rindertalg zu einer
cremigen Suppe, in die er, wuhrend Grenouille unaufhurlich mit einem
besenlangen Spatel ruhren musste, scheffelweise die frischen Bluten
schuttete. Wie zu Tode erschreckte Augen lagen sie fur eine Sekunde auf der
Oberfluche und erbleichten in dem Moment, da der Spatel sie unterruhrte und
das warme Fett sie umschloss. Und fast im selben Moment waren sie auch schon
erschlafft und verwelkt, und offenbar kam der Tod so rasch uber sie, dass
ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihren letzten duftenden Seufzer
eben jenem Medium einzuhauchen, das sie ertrunkte; denn - Grenouille
gewahrte es zu seinem unbeschreiblichen Entzucken - je mehr Bluten er in
seinem Kessel unterruhrte, desto sturker duftete das Fett. Und zwar waren es
nicht etwa die toten Bluten, die im Fett weiterdufteten, nein, es war das
Fett selbst, das sich den Duft der Bluten angeeignet hatte.
Mitunter wurde die Suppe zu dick, und sie mussten sie rasch durch
große Siebe gießen, um sie von den ausgelaugten Leichen zu
befreien und fur frische Blutenbereit zu machen. Dann scheffelten und
ruhrten und seihten sie weiter, den ganzen Tag uber ohne Pause, denn das
Geschuft duldete keine Verzugerung, bis gegen Abend der ganze Blutenhaufen
durch den Fettkessel gewandert war. Die Abfulle wurden - damit auch nichts
verloren ginge - mit kochendem Wasser uberbruht und in einer Spindelpresse
bis zum letzten Tropfen ausgewrungen, was immerhin noch ein zart duftendes
ul abgab. Das Gros des Duftes aber, die Seele eines Meeres von Bluten, war
im Kessel verblieben, eingeschlossen und bewahrt im unansehnlich
grauweißen, nun langsam erstarrenden Fett.
Am kommenden Tag wurde die Mazeration, wie man diese Prozedur nannte,
fortgesetzt, der Kessel wieder angeheizt, das Fett verflussigt und mit neuen
Bluten beschickt. So ging es mehrere Tage lang von fruh bis sput. Die Arbeit
war anstrengend. Grenouille hatte bleierne Arme, Schwielen an den Hunden und
Schmerzen im Rucken, wenn er abends in seine Kabane wankte. Druot, der wohl
dreimal so kruftig wie er war, luste ihn kein einziges Mal beim Ruhren ab,
sondern begnugte sich, die federleichten Bluten nachzuschutten, auf das
Feuer aufzupassen und gelegentlich, der Hitze wegen, einen Schluck trinken
zu gehen. Aber Grenouille muckte nicht auf. Klaglos ruhrte er die Bluten ins
Fett, von morgens bis abends, und spurte wuhrend des Ruhrens die Anstrengung
kaum, denn er war immer aufs neue fasziniert von dem Prozess, der sich unter
seinen Augen und unter seiner Nase abspielte: dem raschen Welken der Bluten
und der Absorption ihres Duftes.
Nach einiger Zeit entschied Druot, dass das Fett nun gesuttigt sei und
keinen weiteren Duft mehr absorbieren kunne. Sie luschten das Feuer, seihten
die schwere Suppe zum letzten Mal ab und fullten sie in Tiegel aus Steingut,
wo sie sich alsbald zu einer herrlich duftenden Pomade verfestigte.
Dies war die Stunde von Madame Arnulfi, die kam, um das kostbare
Produkt zu prufen, zu beschriften und die Ausbeute genauestens nach Qualitut
und Quantitut in ihren Buchern zu verzeichnen. Nachdem sie die Tiegel
huchstpersunlich verschlossen, versiegelt und in die kuhlen Tiefen ihres
Kellers getragen hatte, zog sie ihr schwarzes Kleid an, nahm ihren
Witwenschleier und machte die Runde bei den Kaufleuten und
Parfumhandelshuusern der Stadt. Mit bewegenden Worten schilderte sie den
Herren ihre Situation als alleinstehende Frau, ließ sich Angebote
machen, verglich die Preise, seufzte und verkaufte endlich - oder verkaufte
nicht. Parfumierte Pomade, kuhl gelagert, hielt sich lange. Und wenn die
Preise jetzt zu wunschen ubrigließen, wer weiß, vielleicht
kletterten sie im Winter oder nuchsten Fruhjahr in die Huhe. Auch war zu
uberlegen, ob man nicht, statt diesen Pfeffersucken zu verkaufen, mit andern
kleinen Produzenten gemeinsam eine Ladung Pomade nach Genua verschiffen oder
sich an einem Konvoi zur Herbstmesse in Beaucaire beteiligen sollte -
riskante Unternehmungen, gewiss, doch im Erfolgsfall uußerst
eintruglich. Diese verschiedenen Muglichkeiten wog Madame Arnulfi sorgsam
gegeneinander ab, und manchmal verband sie sie auch und verkaufte einen Teil
ihrer Schutze, hob einen anderen auf und handelte mit einem dritten auf
eigenes Risiko. Hatte sie allerdings bei ihren Erkundigungen den Eindruck
gewonnen, der Pomademarkt sei ubersuttigt und werde sich in absehbarer Zeit
nicht zu ihren Gunsten verknappen, so eilte sie wehenden Schleiers nach
Hause und gab Druot den Auftrag, die ganze Produktion einer Lavage zu
unterziehen und sie in Essence Absolue zu verwandeln.
Und dann wurde die Pomade wieder aus dem Keller geholt, in
verschlossenen Tupfen aufs Vorsichtigste erwurmt, mit feinstem Weingeist
versetzt und vermittels eines eingebauten Ruhrwerks, welches Grenouille
bediente, grundlich durchgemischt und ausgewaschen. Zuruck in den Keller
verbracht, kuhlte diese Mischung rasch aus, der Alkohol schied sich vom
erstarrenden Fett der Pomade und konnte in eine Flasche abgelassen werden.
Er stellte nun quasi ein Parfum dar, allerdings von enormer Intensitut,
wuhrend die zuruckbleibende Pomade den grußten Teil ihres Duftes
verloren hatte. Abermals also war der Blutenduft auf ein anderes Medium
ubergegangen. Doch damit war die Operation noch nicht zu Ende. Nach
grundlicher Filtrage durch Gazetucher, in denen auch die kleinsten Klumpchen
Fett zuruckgehalten wurden, fullte Druot den parfumierten Alkohol in einen
kleinen Alambic und destillierte ihn uber dezentestem Feuer langsam ab. Was
nach der Verfluchtigung des Alkohols in der Blase zuruckblieb, war eine
winzige Menge blass gefurbter Flussigkeit, die Grenouille wohlbekannt war,
die er aber in dieser Qualitut und Reinheit weder bei Baldini noch etwa bei
Runel gerochen hatte: Das schiere ul der Bluten, ihr blanker Duft,
hunderttausendfach konzentriert zu einerkleinen Pfutze Essence Absolue.
Diese Essenz roch nicht mehr lieblich. Sie roch beinahe schmerzhaft
intensiv, scharf und beizend. Und doch genugte schon ein Tropfen davon,
aufgelust in einem Liter Alkohol, um sie wieder zu beleben und ein ganzes
Feld von Blumen geruchlich wiederauferstehen zu lassen.
Die Ausbeute war furchterlich gering. Gerade drei kleine Flakons fullte
die Flussigkeit aus der Destillierblase. Mehr war von dem Duft von
hunderttausend Bluten nicht ubriggeblieben als drei kleine Flakons. Aber sie
waren ein Vermugen wert, schon hier in Grasse. Und um wie viel mehr noch,
wenn man sie nach Paris verschickte oder nach Lyon, nach Grenoble, nach
Genua oder Marseille! Madame Arnulfi bekam einen schmelzend schunen Blick
beim Anschauen dieser Fluschchen, sie liebkoste sie mit Augen, und als sie
sie nahm und mit fugig geschliffenen Glaspfropfen verstupselte, hielt sie
den Atem an, um nur ja nichts vom kostbaren Inhalt zu verblasen. Und damit
auch nach dem Verstupseln nicht das kleinste Atom verdunstenderweise
entweiche, versiegelte sie die Pfropfen mit flussigem Wachs und umkapselte
sie mit einer Fischblase, die sie am Flaschenhals fest verschnurte. Dann
stellte sie sie in ein wattegefuttertes Kustchen und brachte sie im Keller
hinter Schloss und Riegel.
37
Im April mazerierten sie Ginster und Orangenblute, im Mai ein Meer von
Rosen, deren Duft die Stadt fur einen ganzen Monat in einen
cremigsußen unsichtbaren Nebel tauchte. Grenouille arbeitete wie ein
Pferd. Bescheiden, mit fast sklavenhafter Bereitschaft fuhrte er all die
untergeordneten Tutigkeiten aus, die Druot ihm auftrug. Aber wuhrend er
scheinbar stumpfsinnig ruhrte, spachtelte, Bottiche wusch, die Werkstatt
putzte oder Feuerholz schleppte, entging seiner Aufmerksamkeit nichts von
den wesentlichen Dingen des Geschufts, nichts von der Metamorphose der
Dufte. Genauer als Druot es je vermocht hutte, mit seiner Nase numlich,
verfolgte und uberwachte Grenouille die Wanderung der Dufte von den Bluttern
der Bluten uber das Fett und den Alkohol bis in die kustlichen kleinen
Flakons. Er roch, lange ehe Druot es bemerkte, wann sich das Fett zu stark
erhitzte, er roch, wann die Blute erschupft, wann die Suppe mit Duft
gesuttigt war, er roch, was im Innern der Mischgefuße geschah und zu
welchem pruzisen Moment der Destillationsprozess beendet werden musste. Und
gelegentlich gab er sich zu verstehen, freilich ganz unverbindlich und ohne
seine unterwurfige Attitude abzulegen. Ihm komme so vor, sagte er, als sei
das Fett jetzt womuglich zu heiß geworden; er glaube fast, man kunne
demnuchst abseihen; er habe es irgendwie im Gefuhl, als sei der Alkohol im
Alambic jetzt verdunstet... Und Druot, der zwar nicht gerade fabelhaft
intelligent, aber auch nicht vullig dumpfkupfig war, bekam mit der Zeit
heraus, dass er mit seinen Entscheidungen justament dann am besten fuhr,
wenn er das tat oder anordnete, was Grenouille gerade "so glaubte" oder
"irgendwie im Gefuhl" hatte. Und da Grenouille niemals vorlaut oder
besserwisserisch uußerte, was er glaubte oder im Gefuhl hatte, und
weil er niemals und vor allem niemals in Gegenwart von Madame Arnulfi -
Druots Autoritut und seine pruponderante Stellung als des ersten Gesellen
auch nur ironisch in Zweifel gezogen hutte, sah Druot keinen Anlass,
Grenouilles Ratschlugen nicht zu folgen, ja, ihm sogar nicht mit der Zeit
immer mehr Entscheidungen ganz offen zu uberlassen.
Immer huufiger geschah es, dass Grenouille nicht mehr nur ruhrte,
sondern zugleich auch beschickte, heizte und siebte, wuhrend Druot auf einen
Sprung in die >Quatre Dauphins< verschwand, fur ein Glas Wein, oder
hinauf zu Madame, um dort nach dem Rechten zu sehn. Er wusste, dass er sich
auf Grenouille verlassen konnte. Und Grenouille, obwohl er doppelte Arbeit
verrichtete, genoss es, allein zu sein, sich in der neuen Kunst zu
perfektionieren und gelegentlich kleine Experimente zu machen. Und mit
diebischer Freude stellte er fest, dass die von ihm bereitete Pomade
ungleich feiner, dass seine Essence Absolue um Grade reiner war als die
gemeinsam mit Druot erzeugte.
Ende Juli begann die Zeit des Jasmins, im August die der
Nachthyazinthe. Beide Blumen waren von so exquisitem und zugleich fragilem
Parfum, dass ihre Bluten nicht nur vor Sonnenaufgang gepfluckt werden
mussten, sondern auch die speziellste, zarteste Verarbeitung erheischten.
Wurme verminderte ihren Duft, das plutzliche Bad im heißen
Mazerationsfett hutte ihn vullig zersturt. Diese edelsten aller Bluten
ließen sich ihre Seele nicht einfach entreißen, man musste sie
ihnen regelrecht abschmeicheln. In einem besonderen Beduftungsraum wurden
sie auf mit kuhlem Fett bestrichene Platten gestreut oder locker in
ulgetrunkte Tucher gehullt und mussten sich langsam zu Tode schlafen. Erst
nach drei oder vier Tagen waren sie verwelkt und hatten ihren Duft an das
benachbarte Fett und ul abgeatmet. Dann zupfte man sie vorsichtig ab und
streute frische Bluten aus. Der Vorgang wurde wohl zehn, zwanzig Mal
wiederholt, und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und das duftende ul
aus den Tuchern abgepresst werden konnte, war es September geworden. Die
Ausbeute war noch um ein Wesentliches geringer als bei der Mazeration. Die
Qualitut aber einer solchen durch kalte Enfleurage gewonnenen Jasminpaste
oder eines Huile Antique de Tubereuse ubertraf die jedes anderen Produkts
der parfumistischen Kunst an Feinheit und Originaltreue. Namentlich beim
Jasmin schien es, als habe sich der sußhaftende, erotische Duft der
Blute auf den Fettplatten wie in einem Spiegel abgebildet und strahle nun
vullig naturgetreu zuruck - cum grano salis freilich. Denn Grenouilles Nase
erkannte selbstverstundlich noch den Unterschied zwischen dem Geruch der
Blute und ihrem konservierten Duft: Wie ein zarter Schleier lag da der
Eigengeruch des Fetts - es mochte so rein sein, wie es wollte - uber dem
Duftbild des Originals, milderte es, schwuchte das Eklatante sanft ab,
machte vielleicht sogar seine Schunheit fur gewuhnliche Menschen uberhaupt
erst ertruglich... In jedem Falle aber war die kalte Enfleurage das
raffinierteste und wirksamste Mittel, zarte Dufte einzufangen. Ein besseres
gab es nicht. Und wenn die Methode auch nicht genugte, Grenouilles Nase
vollkommen zu uberzeugen, so wusste er doch, dass sie zur Dupierung einer
Welt von Dumpfnasen tausendmal hinreichte.
Schon nach kurzer Zeit hatte er seinen Lehrmeister Druot, ebenso wie
beim Mazerieren, auch in der Kunst der kalten Beduftung uberflugelt und ihm
dies auf die bewuhrte, unterwurfig diskrete Weise klargemacht. Druot
uberließ es ihm gerne, hinaus zum Schlachthof zu gehen und dort die
geeignetsten Fette zu kaufen, sie zu reinigen, auszulassen, zu filtrieren
und ihr Mischverhultnis zu bestimmen - eine fur Druot immer huchst diffizile
und gefurchtete Aufgabe, denn ein unreines, ranziges oder zu sehr nach
Schwein, Hammel oder Rind riechendes Fett konnte die kostbarste Pomade
ruinieren. Er uberließ es ihm, den Abstand der Fettplatten im
Beduftungsraum, den Zeitpunkt des Blutenwechsels, den Suttigungsgrad der
Pomade zu bestimmen, uberließ ihm bald alle prekuren Entscheidungen,
die er, Druot, uhnlich wie seinerzeit Baldini, immer nur ungefuhr nach
angelernten Regeln treffen konnte, die Grenouille aber mit dem Wissen seiner
Nase traf - was Druot freilich nicht ahnte.
"Er hat eine gluckliche Hand", sagte Druot, "er hat ein gutes Gefuhl
fur die Dinge." Und manchmal dachte er auch: "Er ist ganz einfach viel
begabter als ich, er ist ein hundertmal besserer Parfumeur." Und zugleich
hielt er ihn fur einen ausgemachten Trottel, da Grenouille, wie er glaubte,
nicht das geringste Kapital aus seiner Begabung schlug, er aber, Druot, es
mit seinen bescheideneren Fuhigkeiten demnuchst zum Meister bringen wurde.
Und Grenouille besturkte ihn in dieser Meinung, gab sich mit Fleiß
dummlich, zeigte nicht den geringsten Ehrgeiz, tat, als wisse er gar nichts
von seiner eigenen Genialitut, sondern als handle er nur nach den
Anordnungen des viel erfahreneren Druot, ohne den er ein Nichts wure. Auf
diese Weise kamen sie recht gut miteinander aus.
Dann wurde es Herbst und Winter. In der Werkstatt ging es ruhiger zu.
Die Blutendufte lagen in Tiegeln und Flakons gefangen im Keller, und wenn
nicht Madame die eine oder andre Pomade auszuwaschen wunschte oder einen
Sack getrockneter Gewurze destillieren ließ, war nicht mehr allzu viel
zu tun. Oliven gab es noch, Woche fur Woche ein paar Kurbe voll. Sie
pressten ihnen das Jungfernul ab und gaben den Rest in die ulmuhle. Und
Wein, von dem Grenouille einen Teil zu Alkohol destillierte und
rektifizierte.
Druot ließ sich immer weniger blicken. Er tat seine Pflicht im
Bett von Madame, und wenn er erschien, nach Schweiß und Samen
stinkend, so nur, um alsbald in die >Quatre Dauphins< zu verschwinden.
Auch Madame kam selten herunter. Sie beschuftigte sich mit ihren
Vermugensangelegenheiten und mit der Umarbeitung ihrer Garderobe fur die
Zeit nach dem Trauerjahr. Oft sah Grenouille tagelang niemanden außer
der Magd, bei der er mittags Suppe bekam und abends Brot und Oliven. Er ging
kaum aus. Am korporativen Leben, namentlich den regelmußigen
Gesellentreffen und Umzugen beteiligte er sich gerade so huufig, dass er
weder durch seine Abwesenheit noch durch seine Gegenwart auffiel.
Freundschaften oder nuhere Bekanntschaften hatte er keine, achtete aber
peinlich darauf, nicht womuglich als arrogant oder außenseiterisch zu
gelten. Er uberließ es den anderen Gesellen, seine Gesellschaft fad
und unergiebig zu finden. Er war ein Meister in der Kunst, Langeweile zu
verbreiten und sich als unbeholfenen Trottel zu geben - freilich nie so
ubertrieben, dass man sich mit Genuss uber ihn lustig machen oder ihn als
Opfer fur irgendeinen der derben Zunftspuße gebrauchen hutte kunnen.
Es gelang ihm, als vollstundig uninteressant zu gelten. Man ließ ihn
in Ruhe. Und nichts anderes wollte er.
38
Er verbrachte seine Zeit im Atelier. Druot gegenuber behauptete er, er
wolle ein Rezept fur Kulnisches Wasser erfinden. In Wirklichkeit aber
experimentierte er mit ganz anderen Duften. Sein Parfum, das er in
Montpellier gemischt hatte, ging, obwohl er es sehr sparsam verwendete,
allmuhlich zu Ende. Er kreierte ein neues. Aber diesmal begnugte er sich
nicht mehr damit, aus hastig zusammengesetzten Materialien den
Menschengrundgeruch schlecht und recht zu imitieren, sondern er setzte
seinen Ehrgeiz daran, sich einen persunlichen Duft oder vielmehr eine
Vielzahl persunlicher Dufte zuzulegen.
Zunuchst machte er sich einen Unauffulligkeitsgeruch, ein mausgraues
Duftkleid fur alle Tage, bei dem der kusigsuuerliche Duft des Menschlichen
zwar noch vorhanden war, sich aber gleichsam nur noch wie durch eine dicke
Schicht von leinenen und wollenen Gewundern, die uber trockne Greisenhaut
gelegt sind, an die Außenwelt verstrumte. So riechend konnte er sich
bequem unter Menschen begeben. Das Parfum war stark genug, um die Existenz
einer Person olfaktorisch zu begrunden, und zugleich so diskret, dass es
niemanden behelligte. Grenouille war damit geruchlich eigentlich nicht
vorhanden und dennoch in seiner Prusenz immer aufs Bescheidenste
gerechtfertigt - ein Zwitterzustand, der ihm sowohl im Hause Arnulfi als
auch bei seinen gelegentlichen Gungen durch die Stadt sehr zupass kam.
Bei gewissen Gelegenheiten freilich erwies sich der bescheidene Duft
als hinderlich. Wenn er im Auftrag von Druot Besorgungen zu machen hatte
oder fur sich selbst bei einem Hundler etwas Zibet oder ein paar Kurner
Moschus kaufen wollte, konnte es geschehen, dass man ihn in seiner perfekten
Unauffulligkeit entweder vullig ubersah und nicht bediente oder zwar sah,
aber falsch bediente oder wuhrend des Bedienens wieder vergaß. Fur
solche Anlusse hatte er sich ein etwas rasseres, leicht schweißiges
Parfum zurechtgemixt, mit einigen olfaktorischen Ecken und Kanten, das ihm
eine derbere Erscheinung verlieh und die Leute glauben machte, es sei ihm
eilig und ihn trieben dringende Geschufte. Auch mit einer Imitation von
Druots aura seminalis, die er mittels Beduftung eines fettigen Leintuchs
durch eine Paste von frischen Enteneiern und angegorenem Weizenmehl
tuuschend uhnlich herzustellen wusste, hatte er gute Erfolge, wenn es darum
ging, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu erregen.
Ein anderes Parfum aus seinem Arsenal war ein mitleiderregender Duft,
der sich bei Frauen mittleren und huheren Alters bewuhrte. Er roch nach
dunner Milch und sauberem weichem Holz. Grenouille wirkte damit - auch wenn
er unrasiert, finsterer Miene und bemuntelt auftrat - wie ein armer blasser
Bub in einem abgewetzten Juckchen, dem geholfen werden musste. Die
Marktweiber, wenn sie seiner anruchig wurden, steckten ihm Nusse und trockne
Birnen zu, weil er so hungrig und hilflos aussah, wie sie fanden. Und bei
der Frau des Metzgers, einer an und fur sich unerbittlich strengen Vettel,
durfte er sich alte stinkende Fleisch- und Knochenreste aussuchen und gratis
mitnehmen, denn sein Unschuldsduft ruhrte ihr mutterliches Herz. Aus diesen
Resten wiederum bezog er durch direktes Digerieren mit Alkohol die
Hauptkomponente eines Geruchs, den er sich zulegte, wenn er unbedingt allein
und gemieden sein wollte. Der Geruch schuf um ihn eine Atmosphure leisen
Ekels, einen fauligen Hauch, wie er beim Erwachen aus alten ungepflegten
Mundern schlugt. Er war so wirkungsvoll, dass sogar der wenig zimperliche
Druot sich unwillkurlich abwenden und das Freie aufsuchen musste, ohne sich
freilich ganz deutlich bewusst zu werden, was ihn wirklich abgestoßen
hatte. Und ein paar Tropfen des Repellents, auf die Schwelle der Kabane
getruufelt, genugten, jeden muglichen Eindringling, Mensch oder Tier,
fernzuhalten.
Im Schutz dieser verschiedenen Geruche, die er je nach den
uußeren Erfordernissen wie die Kleider wechselte und die ihm alle dazu
dienten, in der Welt der Menschen unbehelligt zu sein und in seinem Wesen
unerkannt zu bleiben, widmete sich Grenouille nun seiner wirklichen
Leidenschaft: der subtilen Jagd nach Duften. Und weil er ein großes
Ziel vor der Nase hatte und noch uber ein Jahr lang Zeit, ging er nicht nur
mit brennendem Eifer, sondern auch ungemein planvoll und systematisch vor
beim Schurfen seiner Waffen, beim Ausfeilen seiner Techniken, bei der
allmuhlichen Perfektionierung seiner Methoden. Er fing dort an, wo er bei
Baldini aufgehurt hatte, bei der Gewinnung der Dufte lebloser Dinge: Stein,
Metall, Glas, Holz, Salz, Wasser, Luft...
Was damals mit Hilfe des groben Verfahrens der Destillation kluglich
misslungen war, gelang nun dank der starken absorbierenden Kraft der Fette.
Einen messingnen Turknauf, dessen kuhl-schimmliger, belegter Duft ihm
gefiel, umkleidete Grenouille fur ein paar Tage mit Rindertalg. Und siehe,
als er den Talg herunterschabte und prufte, so roch er, in zwar sehr
geringem Maße, aber doch eindeutig nach eben jenem Knauf. Und selbst
nach einer Lavage in Alkohol war der Geruch noch da, unendlich zart,
entfernt, vom Dunst des Weingeists uberschattet und auf der Welt wohl nur
von Grenouilles feiner Nase wahrnehmbar aber eben doch da, und das
hieß: zumindest im Prinzip verfugbar. Hutte er zehntausend Knuufe und
wurde er sie tausend Tage lang mit Talg umkleiden, er kunnte einen winzigen
Tropfen Essence Absolue von Messingknaufduft erzeugen, so stark, dass
jedermann d